Hans-Joachim Schwarz hat 34 Jahre lang das Psychiatrische Zentrum in Rickling geleitet. Er spricht zusammen mit seinem Nachfolger Nikolas Kahlke über die Bedeutung psychischer Probleme in der heutigen Gesellschaft.
Hamburger Abendblatt: Herr Schwarz, Sie waren 34 Jahre für den Landesverein für Innere Mission in Schleswig-Holstein tätig und haben den Aufbau und die Weiterentwicklung des Psychiatrischen Zentrums entscheidend geprägt. Wie war es damals, als Sie 1980 zunächst die Tätigkeit als Oberarzt im Psychiatrischen Krankenhaus aufgenommen haben?
Hans-Joachim Schwarz: Natürlich sah die Psychiatrie anders aus. Die Patienten waren anders untergebracht, es gab Säle mit 40 Betten und kaum Schränke. Das Pflegepersonal war nicht so stark vorhanden wie heute. Die Anstaltskleidung war gerade von meinen Vorgängern abgeschafft worden.
Und heute?
Schwarz: Wir haben jetzt ein Krankenhaus, das fast ausschließlich Einzel- und Doppelzimmer bietet. Die Therapiepläne sind vielfältig mit viel Sport und sozialpädagogischer Behandlung. Es hat sich ungeheuer viel entwickelt. Und ich habe einen kleinen Beitrag geleistet.
Wie werden psychische Erkrankungen heute von der Gesellschaft wahrgenommen?
Schwarz: Die Gesellschaft hat für seelische Probleme mehr Verständnis entwickelt. Es besteht die Bereitschaft, psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen als gleichwertige Regelbehandlungen wie die von körperlichen Erkrankungen zu verstehen. Dennoch wird einer Kerngruppe von chronisch psychisch kranken Menschen unverändert vorurteilsbehaftet gegenübergetreten. Trotz allen Fortschritts in Psychotherapie, Soziotherapie und Psychopharmakatherapie wird das Leben der an einer chronisch psychischen Krankheit leidenden Menschen dadurch weiterhin nachhaltig verändert. In diesem Bereich ist weiterhin das Engagement der pflegerischen und therapeutischen Berufsgruppen gefragt.
Haben sich die klassischen Krankheitsbilder im Schwerpunkt der Nachfrage geändert?
Schwarz: Früher standen Schizophrenien im Vordergrund, heute dominieren eindeutig Depressionen und Suchterkrankungen. Begriffe wie Komorbidität sind in den Vordergrund getreten: Bei einer Vielzahl psychischer Erkrankungen liegt heute gleichzeitig ein Suchtproblem vor.
Und das bedeutet?
Schwarz: Die Rolle der psychischen Probleme in der Gesellschaft wird bedeutender. Das ist eine eindeutige Botschaft.
Stichwort Burn-out.
Schwarz: Ja, das hängt mit der Entwicklung der Gesellschaft zusammen. Die Geborgenheit in der Familie und der Zusammenhalt haben sich aufgelöst, die Informationsflut ist größer geworden, der Einzelne muss leistungsfähiger sein. Das sind Hintergründe, die zu einem Burn-out führen können. Die Gesellschaft entwickelt sich weiter, traditionelle Beziehungen werden außer Kraft gesetzt. Aus neuen Beziehungen ergeben sich neue Lebensformen.
Viele Menschen suchen andere Wege, um mit dem Leistungsdruck umgehen zu können.
Schwarz: In der Esoterik zum Beispiel. Das halte ich für einen Ausdruck der Ratlosigkeit in unserer Gesellschaft. Aber es gibt beständige Werte, die Bedeutung haben – zum Beispiel die Nächstenliebe.
Welche Rollen spielen neue Medien?
Schwarz: Das ist schwierig in den Griff zu bekommen. Es ist nicht normal, wenn ein junger Mensch Kontakt zur Welt nur über den Bildschirm hat. Vor allem in der Entwicklungsphase können Menschen Schaden nehmen. Der Verlauf einer Medienabhängigkeit ist wie bei einer klassischen Alkoholsucht. Die Prävention muss verstärkt werden, dafür müssen wir die Familien gewinnen.
Sie haben in Rickling auf diesem Gebiet ein besonderes Projekt gestartet.
Schwarz: Ja, zu den neueren Entwicklungen gehört das Projekt 18plus. Es bietet spezielle diagnostische und therapeutische Angebote für junge Erwachsene, die durch übermäßigen Medienkonsum in ihrer Entwicklung verzögert sind.
Nikolas Kahlke: In dieser Generation wächst der Wunsch heran, etwas dagegen zu tun. Betroffene und die Umgebung entwickeln Ideen, sodass ein Selbstheilungsprozess in Gang kommt. Eigentlich sollte jeder ein Gefühl dafür haben, was ihm gut tut.
Herr Schwarz, Sie waren 40 Jahre Arzt und Psychiater. Haben Sie ihre Berufswahl jemals bereut?
Schwarz: Rückblickend kann ich mit großer Dankbarkeit und Zufriedenheit feststellen, dass ich die richtige Berufswahl getroffen habe. Wohl in keiner anderen medizinischen Fachrichtung ist die Begegnung mit den Menschen so unmittelbar wie in der Psychiatrie und in der Psychotherapie. Ich verlasse dieses Arbeitsfeld mit dem sicheren Gefühl, einen kleinen Beitrag geleistet zu haben, die Lebensqualität von insbesondere chronisch psychisch kranken Menschen verbessert zu haben. Ich wünsche mir, dass viele junge Menschen sich für diese Aufgabe entscheiden, bei der die Hilfe für Menschen von Menschen zu einer erfüllenden und sinnstiftenden Lebensaufgabe werden kann.
Ziehen Sie sich jetzt vollständig von der Arbeit zurück?
Schwarz: Ich begleite noch projektbezogen den Aufbau der psychiatrischen Tagesklinik in Norderstedt.
Herr Kahlke, wie werden Sie die Behandlungsangebote des Psychiatrischen Zentrums weiterentwickeln?
Kahlke: Wir sehen Chancen und Notwendigkeiten, in unseren Behandlungsangeboten noch flexibler auf die Bedarfssituationen unserer Patienten und deren Umfeld einzugehen.
Wo sehen Sie Entwicklungsbedarf?
Kahlke: Den sehen wir vor allem in der Abstimmung von Prävention, ambulanter und stationärer Behandlung, Nachbehandlung und in der Einbeziehung von Familien und sozialem Umfeld.