Marianne und Jürgen Hinrichs aus Wilstedt überlebten im September 2010 einen schweren Unfall auf der Schleswig-Holstein-Straße. In der Diskussion um die Sicherheit auf der Straße, auf der innerhalb von zwei Jahren sechs Menschen starben, melden sie sich nun zu Wort.
Norderstedt. Innerhalb von zwei Jahren starben auf der Schleswig-Holstein-Straße sechs Menschen bei schweren Unfällen, zuletzt ein 51-Jähriger und 46-Jähriger am 19. Februar. Die Polizei spricht von einer unheimlichen Häufung. Und die ganze Stadt diskutiert: Kommt es zu Unfällen auf der Landesstraße, weil die Autofahrer zu unvorsichtig sind? Oder weil die Straße zu gefährlich ist und dringend Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden müssten?
Es vergeht kein Tag in der Redaktion, an dem sich nicht ein Leser meldet und darüber beschwert, dass wir die Schleswig-Holstein-Straße in der Berichterstattung zur „Todesstrecke“ gemacht haben. „Ich bin in meinem Berufsleben eineinhalb Millionen Kilometer durch Norddeutschland gefahren und dabei fast täglich die Schleswig-Holstein-Straße rauf und runter. Von wegen ,Todesstrecke’. Die Straße ist absolut sicher – nur die Leute fahren wie die Verrückten“, sagte etwa ein Leser am Dienstag.
Am Mittwoch meldete sich Jürgen Hinrichs, 66, aus Tangstedt-Wilstedt. Was er sagt, erschüttert. „Meine Frau, zwei Bekannte und ich wären 2010 bei einem schlimmen Unfall auf der Schleswig-Holstein-Straße beinahe ums Leben gekommen.“ Jürgen Hinrichs und seine Frau Marianne, 61, waren bereit, sich für das Abendblatt noch mal an den schlimmen Tag im September 2010 zu erinnern.
Der 19. September 2010 ist ein klarer, schöner Tag. Die Straßenverhältnisse auf der Schleswig-Holstein-Straße sind gut. Kein Nebel, keine Nässe. „Wir wollten eine 89-jährige Nachbarin und deren 65-jährige Tochter zum Flughafen bringen. Sie wollten zu einem Geburtstag nach Schweden reisen“, sagt Marianne Hinrichs. 32 Jahre arbeitete die Wilstedterin am Flughafen Fuhlsbüttel. „Die Strecke über die Schleswig-Holstein-Straße könnte ich blind fahren.“ Am 19. Februar 2010 steigen Marianne und Jürgen Hinrichs, gemeinsam mit den beiden Nachbarinnen in den kleinen grünen VW Polo von Marianne Hinrichs. „Dummerweise nahmen wir meinen kleinen Wagen und nicht den größeren von meinem Mann.“
Gegen 8 Uhr fahren die Vier auf der Schleswig-Holstein-Straße. Marianne Hinrichs fährt, neben ihr als Beifahrerin die 89-jährige Nachbarin, in ihrem Rücken sitzt Jürgen Hinrichs, die Tochter der Nachbarin neben ihm. „Die hatte sich gerade kurz abgeschnallt, um einen Ausweis der Mutter aus dem Kofferraum zu fischen“, erinnert sich Jürgen Hinrichs. Da sehen sie ihn. Ein Golf-Kombi. Kurz hinter der Verkehrsinsel an der Einmündung der Straße Am Exerzierplatz schert der Wagen aus der Kolonne der Fahrzeuge in Richtung Norden aus. Er überholt mit hoher Geschwindigkeit drei Wagen.
„Er kam immer weiter auf uns zu. Alle vier sagten wir wie im Chor: Wieso fährt der nicht wieder rein.“ Jürgen Hinrichs kann sich noch erinnern, dass er „Oh nein!“ schrie. „Und dann machte es auch schon Rumms.“
Das erste, an was sich Jürgen Hinrichs erinnert, ist die Ruhe nach dem Knall. „Wir saßen da, geschockt. Machten zuerst mal den Körper-Check.“ Jürgen Hinrichs erleidet eine Nierenprellung und bricht sich mehrere Rippen. Die nicht angeschnallte Nachbarin neben ihm hat einen Beckenbruch und eine Kopfverletzung, sie war von der Rückbank bis gegen die Frontscheibe geschleudert worden. Die 89-jährige Dame überlebt mit einem Milzriss und Rippenbrüchen. Am schwersten aber hat es Marianne Hinrichs erwischt: „Meine Beiden Oberschenkel und die Knie waren zerschmettert, ich hatte sämtliche Rippen gebrochen und meine Lunge war gerissen. Und damit saß ich eineinhalb Stunden im Wrack des Autos und sah zu, wie die Feuerwehr mich da raus holte. Ich spürte keine Schmerzen. Im Krankenwagen, sagten die Ärzte, wurde es zwischendurch richtig knapp, weil meine Lunge zusammenfiel.“
Der Unfallverursacher war gerade Vater geworden
Der Unfallverursacher, ein 36-jähriger entfernt Bekannter der Familie Hinrichs, hat sich lediglich die Hand gebrochen und zum Unfallzeitpunkt 39 Stunden ohne Schlaf hinter sich. Seine Frau hatte ein Kind zu Welt gebracht. Der Mann war auf dem Weg zu seinem Arbeitgeber, um sich in den Baby-Urlaub abzumelden. „Später hieß es, ihn habe beim Überholen der Sekundenschlaf ereilt. Das Verfahren wurde gegen Zahlung einer Strafe von 1600 Euro eingestellt“, sagt Jürgen Hinrichs.
Marianne Hinrichs hat heute an beiden Beinen „Metall rauf und runter“, kann die Knie nur noch 90 Grad anwinkeln, kann weder Rad fahren, noch den Haushalt oder die Gartenarbeit erledigen. Sie geht auch über drei Jahre nach dem Unfall noch an Krücken. „Seelisch habe ich alles gut weggesteckt. Keine Flash-Backs oder Alpträume.“ Die Versicherung des Gegners zahlte alle Kosten anstandslos. 45.000 Euro Schmerzensgeld gab es. „Davon haben wir uns mit der ganzen Familie einen Urlaub in Südafrika gegönnt. Und ein neues Auto mussten wir uns auch zulegen“, sagt sie.
Über die Schleswig-Holstein-Straße zu fahren ist heute für Marianne Hinrichs nicht leicht. „Ich bin ein fürchterlicher Beifahrer. Ich traue niemandem mehr im Verkehr. Das ist der Kontrollverlust. Nur wenn ich alleine fahre geht es.“ Was ihr passierte, war das Verschulden eines Mannes, nicht einer Straße. „Alle Autofahrer sollten sich mal klar machen, wie sinnlos die Raserei ist. Man sieht sich immer an der nächsten Ampel wieder.“
Doch im Rückblick ist da eine Sache, die das Ehepaar Hinrichs nicht loslässt. Jürgen Hinrichs: „Vielleicht würden doch Leitplanken entlang der Straße an manchen Stellen Sinn machen. Wären wir an diesem Tag auch noch in die Bäume am Straßenrand geflogen – wir wären sicher tot gewesen.“
Auf Antrag der Grünen forderte die Kommunalpolitik im Ausschuss für Stadtentwicklung und Verkehr die Verwaltung auf, zu prüfen, ob neue Geschwindigkeits-Limits, Leitplanken oder abschreckende Dauerblitzanlagen auf der Schleswig-Holstein-Straße Sinn machen. Arne-Michael Berg und Gert Leiteritz von der CDU-Fraktion haben schon vor der Prüfung alle Fragen für sich beantwortet. Sie nennen diese Maßnahmen in einer Mitteilung „Unfug“ und das Vorgehen der Grünen überhastet und populistisch. Die Forderungen würde die Autofahrer nur verunsichern. Die Unfälle hätten nichts mit der Straßenbeschaffenheit zu tun, sondern seien auf Fahrfehler zurückzuführen. Im Übrigen sei die Stadt auf der Landesstraße gar nicht zuständig.