Stadt startet einmaliges Projekt: Bürger begrüßen die Asylsuchenden, investieren ehrenamtlich Zeit und Kraft, damit sich die Neubürger möglichst schnell in ihrer neuen Heimat zurechtfinden.
Norderstedt. „Ich hatte viel Freizeit und wollte was Sinnvolles machen“, sagt Regina Baltrusch. Die 59-Jährige rief Norderstedts Integrationsbeauftragte Heide Kröger an, und die griff gleich zu. Nun betreut Regina Baltrusch vier Flüchtlingsfamilien. Geld bekommt sie dafür nicht, auch Hero Hewa Taher nicht. Die gebürtige Irakerin, die seit 16 Jahren hier lebt, greift drei kurdischen Familien unter die Arme, geht mit den Neubürgern zum Arzt. „Viele sind krank, wenn sie hier ankommen“, sagt Taher. Auch Mirghani Khiri will dazu beitragen, dass sich Zuwanderer in Norderstedt wohl fühlen.
Die Drei sind die Pioniere in einem neuen Projekt: Der runde Tisch „Willkommen in Norderstedt“ will zeigen, dass Flüchtlinge willkommen sind, dass die Norderstedter sie offen aufnehmen und ihnen auf dem Weg in ein neues Leben helfen. Im neuen Begrüßungs- und Begleitkomitee haben sich alle zusammengeschlossen, die beruflich mit Migration befasst sind: Sozialdezernentin Anette Reinders, Mitarbeiter des Sozialamtes und des Amtes für Gebäudewirtschaft, Ellen Siebert, Migrationssozialberaterin des Diakonischen Werke, die neue Migrationsberaterin der Caritas, Andja Zdravac, Manfred Philipp, Leiter der Bildungswerke, sowie die Integrationsbeauftragte Heide Kröger.
Fachkunde ist also reichlich vorhanden, wenn es um Sozialleistungen, Aufenthaltsstatus und andere gesetzliche Regelungen geht. Was aber ist mit den ganz alltäglichen Problemen? Wer begleitet die Asylsuchenden zum Arzt, sagt ihnen, wie sie von der Unterkunft zum Rathaus kommen, wie der Fahrkartenautomat funktioniert, wo sie kostenlos Lebensmittel und Kleidung bekommen? „Das können die Hauptamtler nicht leisten“, sagt Anette Reinders, denn: Der Kreis Segeberg und Norderstedt müssen in diesem Jahr deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen als bisher. 530 sind für den Kreis angekündigt, fast fünfmal so viele Menschen wie vor vier Jahren, sagt Rolf Meenen, Leiter der Ausländerbehörde.
Das größte Kontingent mit 173 Zuwanderern entfällt auf Norderstedt. 2013 waren es 58 Flüchtlinge. Das eine ist, so sagt Anette Reinders, den Menschen ein Dach über dem Kopf zu geben, das andere, ihnen beizustehen und sie so weit wie möglich zu unterstützen, wenn sie sich in einem fremden Land zurechtfinden und einrichten. „Wenn sie in Norderstedt ankommen, haben sie schon mehrere Stationen hinter sich, die zentrale Aufnahmestelle in Neumünster und die Flüchtlingsunterkunft des Kreises in Schackendorf. Viel wissen gar nicht, dass sie nun vorerst in Norderstedt bleiben“, sagt Reinders.
Sie will die Ehrenamtler ins Boot holen, zusammen mit der Integrationsbeauftragten hat sie ein spezielles Modell entwickelt, das im Norden seinesgleichen sucht: die Tandem-Kümmerer. Ein Norderstedter, der hier aufgewachsen ist oder schon lange hier lebt, betreut zusammen mit einem Muttersprachler Flüchtlinge. „Ein Dolmetscher ist auch unbedingt nötig“, sagt Regina Baltrusch, die Familien aus Serbien und Mazedonien den Alltag in Norddeutschland vermittelt.
Und da ist die Norderstedterin, die noch nie Berührungsängste und schon immer Lust auf neue Kulturen hatte, fast im Dauereinsatz. „Der Betreuungsbedarf ist riesig“, sagt sie. Sie wird gebraucht, wenn Telefonate geführt, Schreiben gelesen und beantwortet werden müssen, der siebenjährigen Tochter einer Flüchtlingsfamilie die Milchzähne einfach nicht ausfallen wollen. Da vereinbart sie den Termin mit dem Zahnarzt und geht mit. Oder sie vermittelt die Migranten an die DRK-Kleiderkammer an der Ochsenzoller Straße. „Einer hatte nur Sommerschuhe und ständig kalte Füße“, sagt die Willkommens-Botschafterin.
„Als wir hierher kamen, hat man uns auch geholfen. Davon möchte ich jetzt etwas zurückgeben“, sagt Hero Hewa Taher. Diesen Vorsatz hat sie bisher schon eingelöst, lädt einmal im Monat zum kurdischen Frauenfrühstück ein und engagiert sich bei den Mondfrauen – in der Gruppe, die bei der Flüchtlings- und Migrationsarbeit des Diakonischen Werkes angesiedelt ist, tauschen sich einheimische und Flüchtlingsfrauen aus, unterstützen sich und haben, trotz aller Probleme, auch viel Spaß. „Als Migranten mit dem gleichen kulturellen Hintergrund bekommen wir leichter Zugang zu den neu ankommenden Flüchtlingen“, sagt Taher.
Mirghani Khiri will in die Flüchtlingshilfe einsteigen. „Ich bin Rentner und habe Zeit. Ich habe im Hamburger Abendblatt gelesen, dass die Flüchtlingen in den Unterkünften ziemlich allein gelassen werden. Das möchte ich ändern“, sagt der 76 Jahre alte Ägypter, der schon „urlange“ in Norderstedt lebt. Solange Muslime kein Deutsch könnten, könnten sie im Supermarkt auch nicht feststellen, ob sie da gerade verbotenes Schweinefleisch oder gar Alkohol in den Einkaufswagen packen. Ein Café schwebt Khiri vor, in dem die Männer Schach oder Backgammon spielen, Tee und Kaffee trinken – und so ganz nebenbei lernen, dass die Männer hier nicht wie ihre Geschlechtsgenossen im Orient den Tag im Café verbringen.
Die Aslysuchenden bekommen ein Begrüßungspaket. Nudeln, Reis, einen Topf, Klopapier, ein Handtuch, Teller, Becher, Gläser, Kekse, Kaffee, Tee, alles verstaut in einer Tüte, auf der in 40 Sprachen „Herzlich willkommen“ steht. „Das Paket soll die ersten Stunden erleichtern, den Flüchtlingen die Chance bieten, zur Ruhe zu kommen“, sagt Manfred Philipp, Leiter der Bildungswerke, die den Willkommensgruß für wenig Geld organisiert haben.