Die Norderstedterin Julia S. flüchtet sich aus ihrer unglücklichen Ehe in den Alkohol. Mit ihr stürzt auch ihre Tochter ab. Die ATS Suchtberatung und das Projekt „Kleine Riesen“ helfen beiden wieder auf die Beine.

Norderstedt. Ihr Leiden verbarg sich vor der Katastrophe hinter einer perfekten Fassade. „Ein Mann, eine Tochter, ein Haus, ein Auto, ein Job. Von außen betrachtet war das perfekt.“ Julia S. lächelt bitter, weil sie sich erinnert, wie sie sich selbst all die Jahre mit diesem Bild betrogen hat. „Es war eine Lüge. Ich war nicht glücklich.“ Im Gegenteil.

Es mag viele Frauen geben, die ähnliche Probleme kennen. „Im Prinzip war ich alleinerziehend. Mein Mann war nie da.“ Wenn Julia S. ins Bett ging, kam er erst nach Hause. Wenn sie aufstand, blieb er noch liegen. „Unsere Tochter hatte so gut wie nichts von ihm. Am Wochenende zockte er Computer-Spiele. Er war süchtig danach. Für mich und unsere Tochter blieb keine Aufmerksamkeit.“ Was Julia S. von anderen Frauen mit ähnlichen Problemen unterscheidet, ist ihre Bewältigungsstrategie, mit der sie das Unglück in ihrem Leben anging. „Es ging damit los, dass ich mit einer guten Freundin telefonierte und mir dabei ein Weinchen aufmachte.“ Das Weinchen wurde zum wöchentlichen Ritual. „Früher hatte ich nie alleine Alkohol getrunken. Das machte mir keinen Spaß.“ Die Freundin hatte ein offenes Ohr für ihre Probleme, trank selbst gern ein Glas beim gemeinsam Klönen. „Ich spürte, wie mein Zustand sich verbesserte. Ich war nicht mehr so traurig.“ Die Tochter war damals fünf Jahre alt und schon im Bett, wenn die Mutter den Korken aus der Flasche zog. „Die kriegt schon nichts mit. Das habe ich mir eingeredet. Aber da lag ich falsch.“ Kinder kriegen immer alles mit.

Auch ihr Mann sieht die leeren Flaschen. „Ich fragte ihn, ob er meine, dass ich zu viel trinke“, sagt Julia S. „Ach was, so schnell wirst du nicht süchtig, meinte er. Erst als ich ständig eine ganz Flasche allein trank, sagte er, ich solle aufpassen mit dem Alkohol.“ Doch Julia S. hatte längst die Selbstkontrolle verloren.

Die Beziehungsprobleme werden stärker. Schließlich schafft es Julia S., mit „angetrunkenem Mut“ sich von ihrem Mann zu trennen. „Von da an war ich wirklich alleinerziehend. Und dann fing ich richtig an zu trinken.“

Zwei Flaschen Wein jeden Abend war in der Hochphase der Sucht ihr Pensum. „Ich schämte mich total. Ich hielt das Bild panisch aufrecht, dass alles in Ordnung ist, bei der Arbeit und bei Bekannten.“ Das ist typisch für alkoholkranke Frauen. Sie trinken zurückgezogen in den eigenen vier Wänden. Männliche Alkoholiker drehen eher mal in Kneipen auf. Denn gesellschaftlich akzeptiert wird am ehesten der regelmäßig trinkende Kerl. Eine Frau, die säuft, hat kaum Gnade zu erwarten. Die Statistik des Bundesgesundheitsministeriums spricht von jeder fünften unter den 45- bis 54-jährigen Frauen, die gesundheitsgefährdend Alkohol konsumiert. Als Grenze gilt dabei ein Wert von 12 Gramm Alkohol am Tag. 0,1 Liter Wein enthält umgerechnet etwa 9 Gramm Alkohol, eine 0,3-Liter-Flasche Bier etwa 13 Gramm.

Etwa 9,5 Millionen Menschen in Deutschland trinken täglich so viel Bier, Wein oder andere Alkoholika. 1,3 Millionen gelten als alkoholabhängig. Und nur zehn Prozent unterziehen sich einer Therapie – oft erst nach zehn bis 15 Jahren. Jährlich sterben in Deutschland 74.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholmissbrauchs.

Während sich Julia S. immer konsequenter dem Rausch ergibt, bricht für ihre mittlerweile zwölfjährige Tochter zunehmend die Welt zusammen. Der Vater weg, die Mutter laufend betrunken. Die Situation wird immer belastender. „Mama, du bist so anders. Was ist los mit dir?“ Sie weiß nicht, wie sie mit der zunehmend depressiven und angetrunkenen Mutter umgehen soll. Julia S.: „Ich verbot ihr, außerhalb der Wohnung mit irgendjemand über die Sache zu reden. Ich verbot ihr sogar, über ihre Gefühle und ihre Ängste mit mir zu reden. Das war sehr schrecklich von mir.“ Die Tochter findet sich in einer psychisch belastenden Zwickmühle wieder, ist zwischen der Sorge um die Mutter, der Angst um die eigene Existenz und der Ohnmacht, keine Hilfe holen zu dürfen, gefangen. „Ich wollte nicht, dass Leute von außen uns bewerten. Viele verstehen diese Krankheit nicht.“

Zu einer Vertrauten für die Tochter wird eine Schulfreundin. „Das Mädchen war so oft bei uns, sie gehörte fast zur Familie“, sagt Julia S. Ihre Tochter versucht, so gut es geht alles zu regeln, was für ihre betrunkene Mutter zu beschwerlich geworden ist. „Sie hat sich um mich und um vieles andere im Haushalt gekümmert.“ Wenn Julia S. die Flasche öffnet, dann versteht es die Tochter, die Freundin für den Rest des Besuches nicht mehr aus ihrem Zimmer heraus zu lassen. Julia S: „Sie wollte nicht, dass mich im betrunkenen Zustand jemand sieht. Sie schützte mich.“

Es sei mit das größte Problem, sagt Julia S., dass die Leute nicht wüssten, wie sie mit dieser Krankheit umgehen sollen. Wer Krebs hat, der darf auf Anteilnahme, ein liebes Wort, ein aufmunterndes Lächeln oder aktive Hilfe hoffen. Wer alkoholsüchtig ist, hat in der Regel nur Abscheu, Verachtung und Verurteilung zu erwarten. In ihrer Familie bleibt die Alkoholsucht von Julia S. nicht unentdeckt. „Meine Mutter warnte mich, ich müsse etwas tun. Meine Schwester schob das Thema weit weg, wollte es nicht wahrhaben.“ Es war schließlich die Freundin, mit der sich Julia S. regelmäßig zum Telefonieren verabredete, die zu ihr durchkam. „Sie hat mich geknackt“, sagt Julia S.

Die Freundin ließ nicht locker. Ständig sprach sie Julia S. auf die Sucht an. In den Briefkasten wirft sie Informationsbroschüren von Hilfsangeboten in Norderstedt oder in Hamburg. Die Freundin wendet eine Strategie an, für die Julia S. die Umschreibung „liebevolle Konfrontation“ findet. „Ich bepöbelte sie, ich schmiss sie aus meiner Wohnung, ich ging sie physisch an – aber sie kam immer zurück und gab nicht auf. Ohne Vorwürfe und Verurteilung, nur mit dem Angebot, helfen zu wollen.“ An einem Abend eskalierte ein Streit der beiden Freundinnen. „Ich wollte sie rauswerfen. Da packte sie mich, zerrte mich vor einen Spiegel und zwang mich, mein Spiegelbild zu betrachten.“ Die Freundin schrie: „Schau dich an, denk an deine Tochter und dann entscheide dich: Entweder rufe ich jetzt das Jugendamt oder den Krankenwagen.“ Julia S. blickte in den Spiegel. „Ruf den Krankenwagen.“

Julia S. bricht zusammen. Und auch die Kraft der Tochter versiegt. Sie hält es mit der Mutter nicht mehr aus und flüchtet zu ihrem Vater. Julia S. ist allein mit ihrer Sucht. Sie beginnt eine Entgiftung in der psychiatrischen Klinik in Rickling und meldet sich für eine Therapie bei der Ambulanten und Teilstationären Suchthilfe (ATS) des Landesvereins für Innere Mission an. Es war eine Überwindung für die Norderstedterin, in das Haus der ATS an der Kohfurth zu gehen. „Ich bin hier aufgewachsen, ich kenne das Haus und was dort angeboten wird. Ich hätte nie gedacht, dass ich da mal hingehen würde.“ Doch ihre Angst, von anderen erkannt, als Trinkerin stigmatisiert zu werden, ist letztlich nicht so groß, um sie vom Schritt über die Schwelle abzuhalten. „Bei der ATS lernte ich, über mich und meine Sucht zu sprechen. Und da hat es ,Klick’ bei mir gemacht“, sagt Julia S. Bei der ATS erfährt sie auch zum ersten Mal vom Projekt „Kleine Riesen“, das sich seit 2009 in Norderstedt um die Kinder aus suchtbelasteten Familien kümmert. Die Sozialpädagogin Astrid Mehrer hat das Angebot aufgebaut und betreut heute etwa 40 Kinder aus Norderstedt in vier Gruppen für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen vier und 18 Jahren. „Die Kinder haben meistens Ausgrenzungserfahrungen gemacht, in der Schule oder im Freundeskreis. Sie sind darauf trainiert, die Sache geheim zu halten“, sagt Mehrer. Bei den „Kleinen Riesen“ treffen die Kinder auf Leidensgenossen. „So können sie das Schweigen leichter brechen. Es ist eine Befreiung in der Gruppe.“

Einmal die Woche treffen sich die „Kleinen Riesen“. Sie, die oft am Rande standen, erleben hier wieder Gemeinschaft, die verlässlich ist. In angeleiteten Rollenspielen erfährt Astrid Mehrer viel über die spezielle Problematik der Kinder. Aggressionen und dem Bewegungsdrang gibt die Sozialpädagogin in Kissenschlachten ein Ventil. Bei Ausflügen lernen die Kinder,Verantwortung in der Gruppe zu übernehmen.

Die meisten der Kinder aus Suchtfamilie leiden unter Mehrfachbelastungen. Sie neigen dazu, schnell durchzudrehen. Ihr Selbstwertgefühl ist deutlich beeinträchtigt, Entwicklungsverzögerungen sind zu beobachten – und nicht wenige neigen zur Suizidalität. ATS-Leiter Hans-Jürgen Tecklenburg spricht von etwa 2,5 Millionen Kindern in Deutschland, die suchtbelastete Eltern haben. Jedes achte Kind sei betroffen, erstaunlicherweise benötigten nur etwa ein Drittel Hilfe, um mit der Situation zurecht zu kommen. Der Rest entwickelt sich relativ normal. Tecklenburg hat in den mittlerweile zwölf Jahren, in denen das Projekt „Kleine Riesen“ in Quickborn und Norderstedt läuft, die Fälle von etwa 150 Kindern ausgewertet, die bei dem Projekt teilgenommen hatten. „90 Prozent von ihnen machten eklatante Fortschritte. 70 Prozent wurden besser in der Schule. Ihr Sozialverhalten veränderte sich völlig. Sie schafften es, sich wieder einen Freundeskreis aufzubauen.“

Julia S. schafft es, ihre Tochter für die „Kleinen Riesen“ zu gewinnen. Die Angst ist bei dem Mädchen groß. Wen werde ich da treffen? Kennen die mich? Posten die das gleich auf Facebook? Die über Jahre geheim gehaltene Sucht wird plötzlich teilöffentlich und man soll mit Fremden darüber reden. „Bei uns staunen viele Kinder nicht schlecht, wem sie hier begegnen. Sucht ist ein Thema in allen sozialen Schichten. Nicht selten höre ich den Satz: Bei deiner Familie hätte ich das ja nie für möglich gehalten“, sagt Astrid Mehrer. Drei Jahre ist die Tochter von Julia S. mittlerweile in der Gruppe dabei. Jetzt ist sie 17 Jahre alt. Alle Probleme sind längst nicht gelöst. „Bei ihrem Vater stürzte sie ab. Ursprünglich besuchte sie eine Realschule – mit der Aussicht, vielleicht noch in Richtung Abitur zu gehen. Jetzt hat sie mit Ach und Krach ihren Hauptschulabschluss geschafft.“ Mutter und Tochter haben bei der ATS wieder zusammengefunden. „Ich bin seit drei Jahren trocken. Ich habe einen lieben Mann getroffen und bin wieder verheiratet. Und meine Tochter lebt bei uns. Wir schaffen das – gemeinsam.“

Die „Kleinen Riesen“ werden hauptsächlich von der Stadt Norderstedt mit etwa 50.000 Euro im Jahr finanziert. Spenden werden gerne genommen: Ev. Darlehensgenossenschaft Kiel,

IBAN: DE 60 210 602 370 098 010 073, BIC: GENODEF1EDG, Verwendungszweck: ATS – Kleine Riesen