Der 2013 verstorbene Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ist in Norderstedt aufgewachsen und verarbeitete Personen und Kindheitsereignisse in seinem Millionenseller. Pastor Martin Lorenz predigt über ihn und sein Buch..

Norderstedt Wolfgang Herrndorf hätte sich wahrscheinlich gewundert: Eine Predigt über ihn, den Schriftsteller, der mit der Kirche offenbar wenig im Sinn hatte. Martin Lorenz, Pastor der Garstedter Emmaus-Gemeinde, sieht es anders: Er will am Sonntag, 12. Januar, in der Christuskirche über Herrndorf und sein Buch „tschick“ predigen und Verbindungen zu den Erzählungen um Jesus von Nazareth ziehen.

Äußern kann sich Wolfgang Herrndorf nicht mehr. Er hat seinem Leben am Montag, 26. August 2013, gegen 23.15 Uhr selbst ein Ende gesetzt. Drei Jahre nachdem bei ihm ein bösartiger Gehirntumor entdeckt worden war, erschoss er sich mit einem Revolver. „Es dürfte einer der letzten Tage gewesen sein, an denen er noch zu der Tat imstande war“, schreiben Marcus Gärtner und Kathrin Passig in ihrem Nachwort zu dem Buch „Arbeit und Struktur“, das im Dezember 2013 erschienen ist. In Tagebuchform schildert er die letzten drei Jahre seines Lebens, den langsamen Abschied von der Welt. Er beschreibt auch, wie er Halt im intensiven Schreiben findet. Ein außergewöhnliches Dokument, denn es basiert auf Herrndorfs Blog, der jetzt noch im Internet zu finden ist (wolfgang-herrndorf.de).

Während sich „tschick“ zum Millionenseller entwickelte, kämpfte der Autor mit dem Tod. Das selbstbestimmte Ende seines Lebens spricht er im Blog immer wieder an. Schon am 25. August 2010 schreibt er: „Ich habe mich damit abgefunden, dass ich mich erschieße.“

In „Arbeit und Struktur“, eines der meistgekauften Bücher dieser Wochen, und in „tschick“ setzt Wolfgang Herrndorf auch Menschen ein Denkmal, denen er in Norderstedt begegnet ist, die seine Lehrer, Mitschüler und Freunde waren. Denn der Autor, 1965 in Hamburg geboren, wuchs hier auf, besuchte die Grundschule Niendorfer Straße, machte das Abitur am Coppernicus-Gymnasium. Martin Lorenz hat bei der Lektüre von „tschick“ erkannt, dass Wolfgang Herrndorf „religionslos von Gott“ erzählt. Die Geschichte von der Freundschaft zwischen einem unsicheren 14-Jährigen aus bürgerlichen Verhältnissen und einem verwahrlosten jugendlichen Spätaussiedler aus Russland (Tschick) trifft seiner Ansicht nach den Kern des Evangeliums. „Auch wenn Wolfgang Herrndorf es verneinen würde.“

Der Jugendroman „tschick“, 2010 erschienen, alleine in Deutschland weit über eine Millionen mal verkauft, mit vielen Preisen ausgezeichnet, in 16 Sprachen übersetzt und inzwischen auch als Theaterstück verarbeitet, spielt in Berlin und Umgebung. Aber tatsächlich hat der Autor Personen, Begebenheiten und Schauplätze aus Norderstedt darin verarbeitet. Ein besonders großes Denkmal setzt er seinem ehemaligen Lehrer und Grundschulleiter Wilhelm Bretfeld, den Herrndorf so beschreibt, wie er wirklich war: „Das war der totale Fachmann im Bumerangbereich. Bretfeld hieß der, Wilhelm Bretfeld. Der hat sogar ein Buch darüber geschrieben. Sogar zwei Bücher.“

Der Schriftsteller muss von dem Lehrer begeistert gewesen sein, denn auf einer Seite beschreibt er, wie Bretfeld einen Langzeitbumerang entwickelt hat, der ihn in Fachkreisen unsterblich gemacht hat. „Wirklich ein guter Lehrer“, schließt Herrndorf die Passage. „Das hatte ich auf der Grundschule gar nicht bemerkt!“ Über den 2003 verstorbenen Wilhelm Bretfeld und seine Bumerangleidenschaft wurde viel berichtet. Es gibt eine Wilhelm-Bretfeld-Gedenkseite im Internet. In seinem Blog „Arbeit und Struktur“ greift Herrndorf das Thema auf. Am 24. November 2011 notiert er: „Die Bumerangs, die im Keller meines Vaters noch lagern, geworfen auf dem Sportplatz am Süd, wo ich auch Bretfeld zum letzten Mal begegnete.“ Diese Begegnung beschreibt er in „tschick“ – und er lässt auch nicht aus, dass sich der Leiter der Grundschule Niendorfer Straße nicht mehr so recht an ihn, die Romanfigur Maik Klingenberg, erinnern kann.

Weitere Lehrer, Tennistrainer und Mitschüler kommen im Jugendroman verschlüsselt vor, in „Arbeit und Struktur“ werden sie jedoch real. Glasmoorstraße, Hofweg, Grüner Weg – hier geht er im Dezember 2011 zwei Stunden spazieren. Im April 2013 bekommt er einen Brief „von meiner als Erstklässler so sehr geliebten Lehrerin“. Er erinnert sich an seinen Abi-Ball, den er ohne Eltern und in seinem „maximal komplettkaputten Lieblings-T-Shirt“ besuchen will. Seine Mutter interveniert: „Ich hab dich da reingebracht, ich hol dich da auch wieder raus.“

Schuster Bonhof, das Renault-Haus Lüdemann& Sens, der Friedrichsgaber Weg als Schulweg, die Lehrer Suck und Fleischhauer vom Copp, die Flugzeuge, die nachts vor seinem Fenster starten und landen, der Flugzeugabsturz 1971, der Pastor, der sich im Glockenturm der Christuskirche erhängte – Erinnerungen an Norderstedt durchziehen das Buch. Besonders gern erinnerte sich der Autor an seinen besten Freund aus Jugendtagen, Stefan Büchler, der ihm Liebesbriefe an Klassenkameradin Annett Solty mitgab und der Ulf Dassow schlug, „nachdem der Kai geschlagen hatte“.

Pastor Martin Lorenz ahnt, dass Wolfgang Herrndorf kein bekennender Christ war. Bei der Lektüre von „Arbeit und Struktur“ kommen kaum Zweifel auf: Am 6. März 2010 notiert er unter der Überschrift „Voraussagen für die Zukunft“: „Ich werde einen Beweis schreiben, dass es Gott nicht gibt, auf der Grundlage der Annahme, dass Jesus Gottes Sohn ist.“ Ob das an dieser Stelle ernst gemeint ist, wird nicht klar, da die weiteren drei Voraussagen eher von Nonsens geprägt sind. An anderer Stelle nenne er Jesus einen „Exzellenheiler“. Er selbst habe nie gelaubt, schreibt Herrndorf. In nachgetragenen Fragmenten schildert er die Folgen seiner Depersonalisation in Einheit mit Derealisation: „Das hat mein Leben auch nicht direkt auf den Kopf gestellt. Ich musste mein Weltbild nicht komplett umdrehen. Es hat mich nur vom Atheisten zum Nihilisten gemacht.“