Viele Eltern können ihre Kinder nicht ausreichend versorgen. Schulleiterin Marita Ehrhardt fand eine Lösung.

Artlenburg. Ramona (9) hat Hunger. "Darf ich mir nachnehmen", fragt die Drittklässlerin, dann schöpft sie sich die dritte Portion Kartoffelsuppe auf den Teller. Es ist Mittagessenszeit in der Grundschule Artlenburg (Landkreis Lüneburg). Neun Kinder sitzen an den Tischen in der großen Küche. "Gibst du mir bitte das Brot?", fragt Erik (10). Neben ihm rutscht Raphael auf seinem Stuhl herum, "weil es Eis zum Nachtisch gibt". Aber er muss warten, bis alle satt sind. Danach räumt der Küchendienst die Teller ab. Ramona hat sich freiwillig gemeldet. "Ich finde es besser hier als zu Hause", sagt sie. "Ich komme jeden Tag."

Viermal in der Woche wird der Pädagogische Mittagstisch in Artlenburg angeboten. "Uns war aufgefallen, dass viele Kinder unterversorgt sind", sagt Schulleiterin Marita Ehrhardt. Immer wieder kämen Schüler hungrig zur Schule, hätten kein Pausenbrot dabei und würden auch sonst nicht von den Eltern unterstützt. "Jeder fünfte Schüler ist betroffen", so die Pädagogin, die für Notfälle immer eine Packung Knäckebrot dahat. "Wenn wir die Nachmittagsbetreuung nicht hätten, weiß ich nicht, wie es in unseren Klassen aussehen würde." Die idyllische Elbgemeinde ein sozialer Brennpunkt?

Auf den ersten Blick ist davon nichts zu sehen. Roter Backstein säumt die Straßen des 1650-Einwohner-Fleckens. Es gibt einen Lebensmittelladen, einen Campingplatz und einen Gasthof mit großem Saal. "Wir haben einige Familien, die unterbemittelt sind", sagt Bürgermeister Rolf Twesten. Auch im Kindergarten erhielte ein Drittel der Familien eine Förderung. "Wir liegen über dem Schnitt", so der Gemeindechef. Nach einer Statistik der Samtgemeinde Scharnebeck können derzeit 21 Prozent der Familien die Kita-Gebühren nicht bezahlen. Im nahen Hohnstorf sind es 16, in Brietlingen nur knapp elf Prozent. "Die Zahlen in Artlenburg sind schon auffällig", sagt Peter Grzyb, stellvertretender Samtgemeindedirektor.

Als Schulleiterin Ehrhardt und ihre Kolleginnen auf die Probleme aufmerksam wurden, waren sogar noch mehr Kinder betroffen. Hart hätten sie mit dem Schulförderverein um den Mittagstisch gekämpft. "Anfangs hieß es immer, so etwas brauchen wir hier bei nicht", sagt die Deutsch-Lehrerin, die mit dem Angebot auch berufstätige Eltern ansprechen will. Sie steht auf dem großen Spielplatz hinter der Schule. Es gibt knapp 80 Schüler in vier Klassen und fünf Lehrerinnen. Seit zwei Jahren schließt sich an den Unterricht bis 16 Uhr der Pädagogische Mittagstisch an - mit gemeinsamem Essen, Hausaufgabenbetreuung und Spielzeiten. Kosten für die Eltern: vier Euro pro Tag. Aber auch das können viele nicht bezahlen.

"Wir haben viele Mietwohnungen", versucht Bürgermeister Twesten die ungewöhnliche Häufung an Problemfamilien zu erklären. Weil die Mieten deutlich günstiger seien, ziehe das wohl sozialschwache Familien aus Hamburg und Umgebung in die Elbgemeinde. "Die bringen die Probleme der Stadt aufs Land."

Etwa 20 Schüler kommen jeden Tag zum Essen. Die meisten auf Anraten der Lehrerinnen. "Es sind nicht immer dieselben", sagt Küchenhilfe Cordula Niske und holt eine Schüssel frischen Obstsalat aus dem Kühlschrank. An den Tischen wird es unruhig. Der Nachtisch naht. Ramona hat zwei kleine Stofftiere aus der Rocktasche gezogen. "Du sollst das Spielzeug beim Essen wegpacken", ermahnt sie Suse Müller. Die Erzieherin vom PädIn in Lüneburg, einer Initiative für soziale Projekte, betreut die Kinder an diesem Nachmittag. "Es ist wichtig, dass sie Regeln und Rücksicht lernen", sagt sie. "Das gibt eine gewisse Geborgenheit."

Trotz des Erfolgs, das Bangen um die Nachmittagsbetreuung bleibt. Gerade haben sich Schule, Gemeinde Artlenburg, Samtgemeinde Scharnebeck und Landkreis Lüneburg nach einigen Schwierigkeiten auf eine Finanzierung für das nächste Halbjahr verständigt. "Die Kosten liegen bei 20 000 Euro im Jahr", sagt Bürgermeister Twesten. Er ist optimistisch, dass das Projekt weiterläuft. Inzwischen steht die Notwendigkeit nicht mehr infrage. Artlenburg gilt sogar als Vorreiter. Die Gemeinden im Umkreis überlegen, ein ähnliches Angebot zu schaffen.

In der Küche haben sich Ramona, Erik, Raphael, Leon und die anderen über den Nachtisch hergemacht. Jetzt ist es ganz still. Vorher haben sie erzählt, dass sie gern zum Mittagstisch kommen. Weil hier die anderen Kinder sind und jemand, der ihnen zuhört. Auch Kjell (8) hat sich über sein Eis hergemacht. Sein Lieblingsessen, erzählt er mit vollem Mund, sind Königsberger Klopse. "Die gibt es zu Hause nie."