Was musste der Kleine erleiden: Knochenbrüche und Misshandlungen. Die Leiche fand die Polizei im Kühlschrank.

Bremen. Kevins Ziehvater nimmt das Urteil ohne jede Regung auf. Die Hände vor dem Bauch gefaltet, starrt er ins Leere. Auch die Chronologie der Qualen und Leiden des zweijährigen Jungen, die der Vorsitzende Richter Helmut Kellermann im Gerichtssaal 218 noch einmal vorträgt, weckt bei dem drogensüchtigen 43-Jährigen äußerlich kaum Emotionen, erst zum Schluss kämpft er kurz mit den Tränen.

Körperverletzung, Körperverletzung mit Todesfolge und schwere Misshandlungen von Schutzbefohlenen - der Richterspruch lautet auf zehn Jahre Haft und die Einweisung in eine Entziehungsanstalt. Die Richter sahen unter anderem wegen des Drogenkonsums eine verminderte Schuldfähigkeit.

Nach 29 Verhandlungstagen, der Vernehmung von 85 Zeugen - darunter 25 Sachverständigen - und reihenweise Akten liegen die letzten Tage im Martyrium des kleinen Jungen im Dunkeln. "Es bleibt auch für uns nur ein undeutliches und unscharfes Bild", sagt Kellermann. Der einzigen Aussage des Angeklagten in dem Verfahren schenkt der Richter wenig Glauben. Über das emotionale Schlusswort des 43-Jährigen mit dem Satz, er wisse nicht mehr, was damals passiert sei, sagt der Jurist: "Ich bin ganz ehrlich. Das glaube ich Ihnen nicht."

Doch nur der 43-Jährige kann letztendlich sagen, was in den letzten Tagen und Wochen passierte, bevor Kevin starb. Fakt ist, dass die Leiche des Kindes, das unter staatlicher Obhut stand, am 10. Oktober 2006 eingewickelt in Decken und Müllsäcke im Kühlschrank des Ziehvaters von Fahndern entdeckt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war der Junge wohl schon seit Monaten tot. Kaum ein Kinderschicksal wird so sehr mit dem Versagen des Staates gleichgesetzt wie das kurze Leben dieses Jungen.

Es gibt eine Vielzahl anderer Fakten, die das Leben Kevins mit all seinen Qualen, Leiden und Schmerzen und den verpassten Chancen, ihn zu retten, dokumentieren. An der Leiche werden rund zwei Dutzend Brüche festgestellt, ältere Frakturen an Armen und Beinen, ein Schädelbruch und Verletzungen im Genitalbereich des Kindes. Zudem gibt es mehrere Brüche, die kurz vor dem Tod entstanden, darunter die völlige Durchtrennung des linken Oberschenkels. Schon früh gibt es Berichte über Misshandlungen, über Drogen- und Alkoholexzesse der mittlerweile gestorbenen Mutter und ihres jetzt verurteilten Lebensgefährten. Forderungen, den Jungen aus der Obhut des drogensüchtigen Paares zu holen, verhallen.

Der Richter sagt in seinem Schlusswort drastische Worte: "Es ist nicht wieder gutzumachen, in keiner Weise. Warum musste das sein?" Kevin hätte etwas Besseres verdient gehabt. "Sie müssen mit der Schuld klarkommen."

Während der Angeklagte kurz mit den Tränen kämpft, ruft ein Zuschauer: "Wir werden Kevin nie vergessen."

Mit diesem Urteil ist der Fall Kevin noch nicht aufgearbeitet. Jetzt wird mit Spannung ein Prozess gegen die verantwortlichen Mitarbeiter der Sozialbehörden erwartet. Der für den toten Jungen verantwortliche Sozialarbeiter und der Amtsvormund sind wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen angeklagt. Ein Prozesstermin steht noch nicht fest.

Der Vorwurf: Das Jugendamt hat nicht auf polizeiliche Notlagenberichte reagiert. Das Kind blieb in der Obhut der Eltern trotz der Feststellung von Misshandlungen. Zudem gab es einen Hinweis eines Arztes auf den dramatisch schlechten Zustand Kevins. Im Untersuchungsbericht zum Fall Kevin steht als Fazit: "Es gab viele, die diese Entwicklung hätten verhindern können."