Wie Frauke und Paul Martin Nissen schwerhörigen Kindern aus Weißrussland helfen. Hanna-Lotte Mikuteit Niebüll

Vera war sechs Jahre alt, als sie zum ersten Mal einen Vogel zwitschern hörte. "Das war so schön", sagt sie. Alle Geräusche, sogar das Plätschern des Wassers im Badezimmer, hätten wie Musik geklungen. Sieben Jahre ist das inzwischen her, immer noch leuchten die Augen der 13-Jährigen bei der Erinnerung. In Jeans und Sweatshirt sitzt das Mädchen aus Weißrussland bei den Nissens in Niebüll (Kreis Nordfriesland). Die dunklen glatten Haare sind zurückgebunden, hinter den Ohren trägt sie große Hörgeräte - sie sind ihr Zugang zur Welt des Klangs. Jahrelang hatte Vera als taubstumm gegolten. "Sie war wie ein kleines Tier", erinnert Frauke Nissen (52) sich an die erste Begegnung, "so aggressiv und verängstigt." Im Alter von drei Jahren hatten ihre Eltern Vera in ein Taubstummeninternat in Pinsk, nahe der Grenze zur Ukraine und zum Unglücksreaktor in Tschernobyl, gebracht - und nie wieder abgeholt. Zu einem Erholungsurlaub kam das Waisenkind 1995 nach Nordfriesland. "Wir hörten von ihrer Geschichte und beschlossen, ihre Ohren zu untersuchen", sagt Frauke Nissen, deren Mann Paul Martin Hörgeräteakustiker ist. Das Ergebnis: Vera ist stark schwerhörig, aber nicht taub. Nissens gaben ihr ein Hörgerät - und eine Zukunftschance. Was als spontane Hilfe für Vera begann, ist für die Nissens eine Lebensaufgabe geworden. "Ich wollte schon immer bedürftigen Kindern helfen", sagt Frauke Nissen. Das Ehepaar gründete einen Verein, der hörgeschädigten Kindern in Weißrussland hilft. "Ihr Anteil ist dort zehnmal höher als bei uns", sagt Paul Martin Nissen (56). Die Schädigungen seien wahrscheinlich auf den schweren Unfall im Atomreaktor Tschernobyl im Jahr 1986 zurückzuführen. Inzwischen haben fast 400 Kinder ein Hörgerät über die Nissens bekommen, haben so hören und sprechen gelernt. Jedes Jahr kommen 20 von ihnen nach Niebüll, um neue Hörsysteme anzupassen und Ferien zu machen. So wie Katja. Mehr als 30 Stunden war die Sechsjährige im Bus unterwegs. Jetzt sitzt sie zusammen mit ihrer Freundin Alijona und Gastmutter Bärbel Clausen (39) beim Hörtest in der Audiometrie. Auch Katja galt als taubstumm, kam in das Internat nach Pinsk. "Hörgeräte sind sehr teuer", sagt Gehörlosenlehrerin Irena Awerina (43). Die Menschen in Weißrussland seien arm, könnten die 500 Euro für ein Hörsystem kaum bezahlen. Auch an der Schule fehlt moderne Technik. "Die Lage der Kinder ist schlecht", sagt die Pädagogin. Sie hat selbst einen hörgeschädigten Sohn und gab Vera ein Zuhause. Dank der Nissens gibt es in Pinsk inzwischen ein Diagnose-Zentrum mit Früherkennungssystem, Sprachcomputer und ein Labor, in dem Hörgeräte angepasst und repariert werden können. Zudem schlossen sie eine Kooperation mit einem weiteren Schwerhörigenheim. "Wir wollen Hilfe zur Selbsthilfe leisten", sagt Paul Martin Nissen. Deshalb vermittelt er auch Praktika und Weiterbildungsmöglichkeiten. "Als Nächstes möchten wir Ausbildungsplätze in Deutschland für die hörgeschädigten Jugendlichen vermitteln", sagt er. Jedes Jahr reist er mit seiner Frau nach Weißrussland, um nach dem Rechten zu schauen. "Bislang ist noch kein Hörgerät verschwunden", sagt er stolz. Die Hilfe kommt an: Aus Vera, dem Kind ohne Zukunft, ist ein fröhlicher Teenager geworden. Sorgfältig formt sie ihre Sätze, erzählt leise und deutlich, dass sie gern Musik hört. "Ich liebe Deutschland", sagt sie. "Es gibt so viele gute Menschen hier." Drei Jahre noch wird sie die Schule in Pinsk besuchen. Was sie werden will, weiß sie noch nicht.