Jameln. Heute in der Serie: Vom Zonenrandgebiet mit Zwischenlager zum Künstlerparadies mit historischen Bauten und Natur pur.

Wie fängt man bloß an, eine Hymne auf das Wendland zu singen? Mit dem Mohn und den Kornblumen an den Feldrainen? Dem Durchzug der trötenden Kraniche über den naturbelassenen Elbtalauen? Dem Lila der Nemitzer Heide, die mit ihren Wanderwegen nicht minder attraktiv als die große Schwester bei Lüneburg ist? Den einzigartigen Rundlingsdörfern, den gelben Widerstandskreuzen – oder doch mit der Pizzeria Mamma Rosa?

Rosa heißt in Wirklichkeit Rosi Schoppe, und ihr Hof auf dem Gelände einer alten Ziegelei in Mützingen mitten im Landkreis Lüchow-Dannenberg umgeben von Feldern und Wäldern hat sich zu einem Fixpunkt des Lebens im Wendland entwickelt. Mittwochs und freitags entsteht im Steinofen die handgefertigte Pizza. Dazu Wendlandbräu, Weine und Alkoholfreies. Sonst nichts. Außer Stimmung. Auf den Wiesen vor dem Blockhaus toben und spielen Kinder und Hunde. Ab und zu treten Bands auf und bieten Folk oder Blues. Nachbar Wolfgang ist auch schon da, dreadlockige Alternative mit Kindern, ein älteres Paar und da, Klaus aus Hitzacker, den kennen wir noch aus Hamburg. Er ist dauerhaft in die Gegend gezogen auf der Suche nach Ruhe und Natur. „Peter“ schallt es laut vom Tresen her – eine Pizza ist fertig.

Lüchow-Dannenberg ist der kleinste Landkreis in Deutschland

Rosi ist ein Kind des Widerstands. Natürlich war sie dabei, damals, seit 1979. Das Thema ist hier noch immer sehr präsent. Und soll auch nicht vergessen werden. Infotafeln klären auf, Aktivisten erzählen. Nicht nur hier, auch im Kulturzentrum Platenlaase zum Beispiel. Die Bilder kennt ja noch jeder. Bauern, die mit ihren Treckern die Castortransporte ins Zwischenlager Gorleben aufhielten, Demonstranten, die sich an Schienen gekettet hatten, Wasserwerfer der Polizei.

Der Kampf gegen das geplante Atommülllager im äußersten Osten der alten Bundesrepublik einte Landwirte und zugezogene Intellektuelle, Künstler und Kassierer. Das gelbe X als Zeichen des Aufbegehrens ist immer noch allgegenwärtig, auch im kleinsten Dorf. Man passt auf, man fällt auf niemanden herein. Bei der letzten Europawahl 2019 erhielt die AfD nur 7,5 Prozent, die Grünen wurden mit 28,6 Prozent dagegen stärkste Partei. Erstaunlich und sehr besonders für einen in vielerlei Beziehung so abgehängten Landkreis.

Mit seinen 48.800 Einwohnern ist Lüchow-Dannenberg der kleinste Landkreis in Deutschland. Strukturschwach, weil jahrzehntelang vergessen im Zonenrandgebiet, Arbeitslosigkeit, kein Autobahnanschluss, Ärztemangel, wegziehende Jugend – heute aber auch der größte Anteil an Biohöfen in ganz Niedersachsen.

Die alte innerdeutsche Grenze ist heute ein Öko-Paradies

Und eine herausragende Natur, eben weil so lange Zeit im Abseits und so dünn besiedelt. Die ehemalige innerdeutsche Grenze ist nun ein Segen, das Biosphärenreservat Niedersächsische Elbtalaue ein ökologisches Paradies. Seeadler und Milane kreisen, Störche kommen jedes Jahr. Biber bauen, Unken unken. Der gemächliche Strom ist immer der gleiche, aber doch stets verschieden. Und der soll später mal zum industriell genutzten Lebenswasser der Freien und Hansestadt werden?

Wie Vieles gut erhalten: die rund 700 Jahre alte Kirche in Satemin.
Wie Vieles gut erhalten: die rund 700 Jahre alte Kirche in Satemin. © Imago

Hier unvorstellbar. Von der Schwedenschanze oder dem Aussichtsturm im Höhbeck bieten sich sensationelle Ausblicke auf die Auenlandschaft. Der Elbe-Radwanderweg ist ein Traum. In Damnatz duckt sich die jahrhundertealte Feldsteinkirche hinter dem Deich, bei Kaltehofe hinter Dannenberg stehen noch die backsteinernen Reste der alten Eisenbahnbrücke rüber nach Dömitz, die die Nazis in den letzten Kriegstagen 1945 gesprengt hatten. Heute ein Symbol für die deutsche Einheit, und Ziel eines wunderbaren Spazierweges direkt am Ufer entlang. Die jahrhundertelange Isolation des Dreiecks zwischen Elbe und Drawehn ist auch verantwortlich für den Erhalt der einmaligen Rundlinge.

Warum genau es zu dieser slawischen, also wendischen, Siedlungsform seit dem 12. Jahrhundert gekommen ist, weiß man nicht ganz genau. Im sehenswerten (Freiluft)-Rundlingsmuseum in Lübeln jedenfalls kann man sich bestens informieren über diese Dorfform, sowie über die Sitten und Gebräuche der Bewohner. Was sicher ist: Durch die isolierte Lage abseits der großen Handelswege blieben viele der alten Bauernhäuser und Dörfer erhalten. Es war einfach kein Geld da, sie zu überbauen. Auch das ist jetzt ein Glück.

Die meisten der Hallenhäuser stammen aus dem frühen 19. Jahrhundert

Nester wie Lübeln, Schreyahn, Gühlitz, Meuchefitz oder Jabel sind Perlen. Die meisten der niedersächsischen Hallenhäuser stammen aus dem frühen 19. Jahrhundert. Inzwischen sind viele dank der Zugezogenen aus Hamburg, Berlin oder woher auch immer renoviert und imposant. Die Häuser waren günstig, ein Traum für Großstadtmüde. Auch das führte zu der angeblich „höchsten Künstlerdichte im ländlichen Deutschland.“

Der Landkreis:

  • Das Wendland, offiziell der Landkreis Lüchow-Dannenberg, ist – gemessen an den 48.400 Einwohnern – der kleinste Deutschlands und der am dünnsten besiedelte Landkreis in den alten Ländern.
  • Wie kommt man hin: Mit dem Auto über die A 39 bis Lüneburg dann weiter über die B 216 Richtung Dannenberg. Mit der Bahn: Der „Erixx“ (RB32) fährt in der Woche fünfmal täglich von Lüneburg bis Dannenberg Ost. Stationen im Wendland sind auch Göhrde, Leitstade und Hitzacker. Diese Verbindung ist im Tarifverbund des HVV. Ein Ticket ab Hamburg über Lüneburg kostet 10,60 Euro.
  • Weitere Informationen findet man im Internet: https://wendland-elbe.de.; https://www.reiseland-niedersachsen.de/reiseziele/regionen/elbe-und-wendland; https://wendland-net.de

Normalerweise präsentieren sich all diese und viele andere zwischen Himmelfahrt und Pfingsten auf der „Kulturellen Landpartie“. In unzähligen „Wunderpunkten“ überall im Landkreis finden dann Ausstellungen, Konzerte, Lesungen, Tanzkurse und Märkte statt. Ein einzigartiges Treiben, das ebenfalls seine Wurzeln im Widerstand hat – und dieses Jahr leider ausfallen musste. Also bleibt man entschleunigt und genießt die Natur.

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Am 25. Juli allerdings, da ist alles ganz anders – trotz Corona-Auflagen. Bunt geschmückte Treckergespanne ziehen hinter einer Regenbogenfahne her über die Landstraßen. Begleitet von ausgelassenen, auffälligen Gestalten. Vom Herrenhaus Salderatzen aus startet immer Ende Juli die einzige Christopher-Street-Day-Parade im ländlichen Raum. Schwule, Lesben, Transgender und jeder, der möchte, ist bei der Party und Demonstration von Lebenslust und für Gleichberechtigung am Start. Ein wahrlich bunter Haufen. Dieses Wendland ist doch immer für eine Überraschung gut.

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Nächste Folge: Glücksburg