Hamburg. Hobby-Ornithologe Andreas Zours weiß fast alles über die Vögel. Kurz hinter Hamburg liegt sein Lieblings-Beobachtungspunkt.

Es ist Sonnabendmittag, und die Sonne steht hoch über der kleinen Elb-Ausbuchtung. Mit den Gezeiten wurde das Wasser langsam weggespült und eine ovale Sandbank sichtbar. Wie immer tummeln sich auf ihr einige Möwen, heute sind es etwa 70. Sie ruhen sich aus und baden an diesem menschenleeren Ort. Einzig ein barfüßiger Mann hat sich in 50 Metern Entfernung auf der Wiese neben dem Fluss platziert. Durch ein Spektiv beobachtet er das Treiben auf der Sandbank.

Schon seit fünf Jahren kommt An­dreas Zours regelmäßig zum Bullenhauser Strand, der gleich hinter der hamburgischen Grenze in Niedersachsen liegt. Hier würden immer viele Möwen landen, um sich von der morgendlichen Futtersuche zu verschnaufen. Die beste Möglichkeit für Zours, nach den beringten Vögeln unter ihnen Ausschau zu halten. Manchmal reicht die 60-fache Vergrößerungslinse kaum aus, um den Code auf dem kleinen Farbring ablesen zu können. „Das ist jetzt ein schöner Moment des Hobby-Ornithologen“, sagt Andreas Zours. Gerade notiert er sich „A734“ – Mit diesem Code hatte er selbst vor einem Monat ein Möwenküken versehen. „Jetzt weiß ich, es hat’s geschafft.“

Andreas Zours befestigt einen Farbring am Bein der Möwe

Andreas Zours ist Möwenberinger. Zu Forschungszwecken darf er Möwen einen codierten Farbring am Bein befestigen. Diese Kennzeichnung macht es möglich, die Vögel im Auge zu behalten und mehr über ihre Zugwege, ihren Bruterfolg und die Treue zum Partner und zum Niststandort herauszufinden. Daher sucht Zours einmal wöchentlich über mehrere Stunden mit seinem Spektiv die gesamte Sandbank ab und notiert sich Nummern. Später wird er sie an die zuständigen Kontaktpersonen weiterleiten, damit Ort und Datum der Sichtung in die „Kartei“ der Möwen aufgenommen werden. In diesem Zuge kann er den „Steckbrief“ der Möwen anfordern und erfahren, wo auf dieser Welt sie sonst noch gesichtet wurden.

Aber nicht nur für Vogelforscher können diese Steckbriefe interessant sein: Wer das nächste Mal beim Strandurlaub eine Möwe beobachtet, sollte auf einen Ring am Bein achten. Mit dem darauf versehenen Code kann man sich an die Vogelwarte in Wilhelmshaven wenden. Sie leitet einem den Kontakt des zuständigen Beringers weiter, von dem man schon einige Tage später alle Informationen erhält, die zu diesem Vogel gesammelt wurden. Faszinierendes kann dabei herauskommen: An „seiner“ Sandbank ist Andreas Zours einmal einer Möwe begegnet, die in ihrem Leben mehr als 8000 Kilometer zurückgelegt hatte.

Die Möwenforschung hat es ihm besonders angetan

Vor 20 Jahren war der 55-Jährige nach Wilhelmsburg gezogen. Bei Spaziergängen auf dieser „grünen Insel“ wurde sein Interesse an der Ornithologie, der Vogelkunde, erweckt. Schon nach den ersten Touren mit erfahrenen Vogelbeobachtern war Zours klar: Das ist genau das Richtige für mich! Als hätte ihm vorher immer etwas gefehlt, wurde die Vogelkunde für ihn schnell „zum Normalsten der Welt“. So kam eins zum anderen, und schließlich ließ er sich zum Vogelberinger ausbilden.

Die Möwenforschung als „langfristiges Thema, wo auch was bei rumkommt“, hat es ihm besonders angetan, denn sie sei für ihn immer mit Abenteuer verbunden. „Kannst du das jetzt jemandem erzählen, oder halten die dich für verrückt?“, fragte Zours sich beispielsweise an einem kalten Tag im März. Es war einer dieser Tage, an denen nicht viel passiert, nur ein paar Sturmmöwen verweilten träge auf der Sandbank. Etwas gelangweilt ließ Zours seinen Blick über die Menge schweifen. Dann erblickte er sie plötzlich und wollte seinen Augen nicht trauen.

Ab April wird gezählt, vermessen und gewogen

Aufgeregt begann er, die Ringnummer der einzelnen Schwarzkopfmöwe in sein Notizbuch zu kritzeln. Als er wenige Sekunden später wieder durch das Spektiv schaute, war sie verschwunden. Als Zours nachher in die Datenbank schaute, stellte sich heraus: Sieben Jahre lang war diese Schwarzkopfmöwe schon nicht mehr gesichtet worden, und auch er hätte sie beinahe übersehen. Manche würden sagen: „Na, und?“ Ihn aber packt der Forscherstolz. „Da spüre ich richtig, wie mich das in Bewegung bringt.“

Als Mitglied des Arbeitskreises der Vogelschutzwarte Hamburg übernimmt Zours neben dem Beringen und Ablesen noch weitere möwenkundige Aufgaben. Von April an besucht er Kolonien, führt Zählungen durch und vermisst und wiegt Eier. Die Herbst- und Wintermonate nutzt der Hobby-Ornithologe, um Vorträge auszuarbeiten, Daten auszuwerten und ab und an Möwenkongresse zu besuchen. Zusätzlich verwaltet er die Datenbank der in Deutschland beringten Schwarzkopfmöwen.

In Hamburg sind neun Möwenarten zu beobachten

Halbtags ist Zours als technischer Mitarbeiter im Bibilotheks- und Medienzentrum der Nordkirche tätig. In seiner Freizeit ist er gern mit dem Rad unterwegs, trifft Freunde oder liest. Hinzu kommen seine ornithologischen Tätigkeiten, die er allesamt ehrenamtlich ausführt. „Es hält mich immer auf Trab, aber ich habe es nie eine Minute bereut“, meint Zours: „Dadurch, dass es alles reine Leidenschaft ist, ist es wie die Liebe. Die Liebe ist auch frei von Zwängen.“ Auch nach so vielen Jahren habe er nicht das Gefühl, dass ihm das Interesse am Thema Möwe vergehe.

Übers Jahr verteilt sind in Hamburg neun Möwenarten zu beobachten, die man in zwei Gruppen einteilt: Zu den Kleinmöwen gehören die Lach-, Sturm-, Zwerg- und Schwarzkopfmöwe. Von den Großmöwen sind die Silber-, Steppen-, Mittelmeer-, Herings- und Mantelmöwe vertreten. Die Arten lassen sich durch ihre unterschiedlichen Gefieder-Färbungen unterscheiden: Für die kleine Lachmöwe ist ein schokoladenbrauner Kopf typisch, die große Silbermöwe zeichnet sich dagegen durch ihre grauen Flügel aus. Ganz so leicht ist es dann aber doch nicht, meint Zours – Im Winter und als Jungtier weisen sie wieder andere Gefieder-Färbungen auf.

In den eng besiedelten Kolonien geht es laut und stressig zu

Möwen sind in den meisten Fällen Zugvögel und reisen in den kalten Monaten südwärts. Nachdem sie den Sommer über in den nordöstlichen Ländern wie Finnland, Estland und Russland gebrütet hat, wird es der Lachmöwe dort zu kalt, und sie kommt zur Überwinterung nach Hamburg. Die Sturmmöwe hingegen brütet hier und wird sich in den kommenden Wochen in Richtung Ärmelkanal aufmachen. Bis dahin kann sie sich aber erst einmal von der kurzen, aber harten Brutzeit erholen. Laut Zours gehe es in den eng besiedelten Kolonien sehr laut und stressig zu.

Von April an würden die Möwen hier sehr viel Zeit verbringen, um schon einmal ihren künftigen Nistplatz zu reservieren. Ist der Nachwuchs dann da, bleibe immer ein Elternteil beim Nest, während das andere auf Nahrungssuche geht. Die Elternzeit endet erst Mitte Juli, wenn der Nachwuchs flügge (flugfähig) ist. Er erklärt, dass die Fluchttiere sich und ihren Nachwuchs nur als Gruppe, beispielsweise durch gemeinschaftliche Hack-Attacken, verteidigen können. Daher werde gleichzeitig gebalzt, der Nestbau betrieben und die Eier gelegt, sodass Schlupf und Ausflug aller Küken zeitnah stattfinden.

Wo es Menschen gibt, gibt es auch genügend Abfälle

Egal, ob klein oder groß, alle Möwen hätten zunächst einmal dieselben Ansprüche an ihr Umfeld. „Fressen und Sicherheit und Sicherheit und Sicherheit“. Die Nahrungsbeschaffung gestalte sich für die Generalisten in der Stadt nicht allzu kompliziert. „Möwen fressen alles, was sie bewältigen können.“ Wo es Menschen gibt, sind auch genügend Abfälle zu finden. Ins Besondere für Stadt­möwen sei die Nähe zum Menschen daher viel bedeutender als die Nähe zum Wasser.

Die Sturmmöwe sei beispielsweise ein schlechter Fischer und halte sich zumeist auf Wiesen auf. Zours vermutet, dass man Möwen heute trotzdem vornehmlich in Küstenregionen vorfindet, da sie über die Jahrhunderte hinweg vom Menschen, der das Binnenland zunehmend kolonisierte, an die Küsten verdrängt wurden.

Schwarzkopfmöwe auf dem Dach einer Spedition in Moorfleet.
Schwarzkopfmöwe auf dem Dach einer Spedition in Moorfleet. © Sven Baumung

Besonders gefallen ihnen große, begrünte Flachdächer

Möwen brüten auf großen, mager bewachsenen Flächen, um Feinde frühzeitig bemerken zu können. Doch „heute gibt es in Hamburg keine einzige Bodenfläche mehr, auf der eine Kolonie sicher brüten kann“. Grund dafür sei laut Zours zum einen der Platzmangel durch Versiegelung, zum anderen kämen immer mehr Füchse in die Stadt. Zeitgleich habe sich ihre Population vergrößert, da die Tollwut bei Füchsen heute nicht mehr so häufig auftrete. Da Möwen nachtblind sind, greife der Fuchs häufig im Dunkeln an und richte immer wieder wahre „Massaker“ an.

Das bedeute für die Möwen: Auf dem Boden sind sie bedroht, also ziehen sie in die Höhe. Besonders gefallen ihnen die großen, begrünten Flachdächer von Unternehmen oder Schulen. Nicht jeder Standort freut sich über seine Dachbewohner, weiß der Möwenberinger. „Aber wohin sollen die Möwen?“, fragt er sich, wenn man sie auf den Dächern nicht haben will, aber gleichzeitig dafür sorgt, dass sie auf dem Boden nicht mehr sicher sind.