Scheeßel. Das ausverkaufte Festival in Scheeßel ist sich auch dieses Jahr treu geblieben: mit vielfältigem Programm und einseitigem Wetter.
„... und irgendwann gibt es hier auch noch einen Autohändler auf dem Gelände“, meckert ein gealterter Punkrock-Fan, aber wir hören nur mit einem Ohr zu, denn es ist schön gerade auf dem Eichenring in Scheeßel. Eine große Lichtinstallation schickt Strahlen über das Gelände des Hurricane Festivals, und in den Strahlen tanzen Mückenschwärme. Ach, was für ein herrlicher Sommerabend.
Zugegeben, die Mückenschwärme sind in Wahrheit Nieseltropfen und es ist kalt. Schließlich hat das Hurricane einen Ruf zu verteidigen, den des traditionell vom Wetter geplagten Konzertmarathons, der seinem Namen alle Ehre macht. Hurricane, das heißt Wind, Regen, Modder. Vielleicht hätte ein anderer Titel bei der Festival-Premiere 1997 für besseres Karma gesorgt. Summer Breeze, A Summer’s Tale, Summer Jam.
Festival-Besucher sitzen Unwetter-Chaos aus
Aber die 78.000 (ausverkauft!) Scheeßelfahrer sind längst drauf eingestellt. Gummistiefel und Regenponchos haben die meisten im Gepäck, die am Donnerstag geduldig in Staus und auf Bahnhöfen das norddeutsche Unwetter-Verkehrschaos aussitzen oder auf den Festival-Parkplätzen ein Schauerloch herbeisehnen, um Sack und Pack und Zelt in die Suhle des Campingareals zu wuchten. Die „Dicke Bertha“ genannte Lenzpumpe des THW schleudert Millionen Liter Wasser vom Gelände in die umliegenden Wälder und Brachen.
Wer es am Donnerstag nicht zu den Warmup-Konzerten von Montreal oder Moop Mama schafft, der landet eben Freitag beim kanadischen Hardrocker Danko Jones oder beim Berliner Hip-Hop-Duo SXTN auf dem Ring. Der eine versprüht Testosteron, die anderen provozieren plakativ mit weiblichem Sexismus. Noch eine „Handbrotzeit“ und die Party kann starten.
Shopburgen und Modeketten auf dem Gelände
Schließlich ist für alles gesorgt. Der Festival-Discounter ist größer als manche Vorstadt-Mall. Es gibt Shopburgen von Modeketten, die – für Festivals – exotischsten, offensiv als „glutenfrei“ beworbenen Gaumengenüsse, dazu kommen sich ewig wiederholende Produkt- und Konzerthinweise auf den großen Videotafeln an den Seiten der vier Bühnen. Fehlt tatsächlich nur noch der Autohändler. Geländewagen wären toll.
Aber am Ende des Tages zählen nicht die Umstände, sondern die 100 Bands. So ist es auch nicht der Kommerz, der den Eingangs zitierten Punk-Fan auf die Palme bringt, sondern das Konzert der Westküsten-Punker Green Day. Mehr als zwei Stunden hat das kalifornische Trio zugeteilt bekommen und äußersten Ehrgeiz an den Tag gelegt, die Festival-Premiere der Band denkwürdig zu gestalten. Immer wieder hängt sich Billie Joe Armstrong Deutschland-Fahnen und -Blumenketten um, verschießt Fanartikel mit einer T-Shirt-Kanone und bittet Fans zum Mitsingen auf die Bühne. Einer darf auch – gekonnt - seine Gitarre übernehmen. Und behalten!
Eine Tradition bei Green-Day-Konzerten, aber die meisten der 78.000 Besucher waren noch gar nicht geboren, als Hits wie „Basket Case“ oder „When I Come Around“ 1994 entstanden. Entsprechend aus dem Häuschen ist die Meute, aber für die Alten sind Mitsingspiele, Stones-Cover und jazzige Saxofon-Soli kein Punkrock mehr. Das war das Hurricane aber nie.
Inzwischen gilt jedes Genre als „festivaltauglich“
Das Band-Angebot wird nicht großartig kuratiert, gebucht wird quer durch alle Genres, was der von starker Konkurrenz geprägte Open-Air-Markt zulässt. Deutschrap ist gerade angesagt, also wechseln sich Neonschwarz, Antilopen Gang, SSIO, Die Orsons, Ace Tee, Casper oder Kontra K. beim Reimen ab.
Und wenn nicht gerade eine heftigere Metal- oder Rock-Band wie Red Fang, Blink-182, Royal Blood oder Baroness die Regler hochschiebt, ist das Hurricane auch mal so mitreißend wie eine Stunde Radio Hamburg hören. Songwriter-Pop, Charts-Pop, Folk-Pop. Boy, Passenger, Lorde, Clueso, Milky Chance, Joris. Sascha Eigner, Gitarrist der Hamburger Band Jupiter Jones, die früher ähnlich klang, erzählte mal im Interview, wie schwierig es noch vor acht, neun Jahren war, für ein Open Air gebucht zu werden. Formatradio-orientierter Pop galt als „nicht festivaltauglich“. Das ist vorbei. Und die US-NuMetal-Pioniere Linkin Park, Headliner am Sonnabend, klingen beim Auftakt mit „Talking To Myself“ eher wie die Backstreet Boys.
Aber ob 100 Bands oder 60, man schafft ja doch nur 30 und kann sich so die persönlichen Perlen rausfischen. Etwa Nathaniel Rateliffs Soul, Techno von Fritz Kalkbrenner oder tatsächlicher Punkrock, den die Kassierer den entgeistert zuschauenden und zuhörenden Uneingeweihten präsentieren, die Songs Marke „Sex mit dem Sozialarbeiter“ noch nicht kennen. Das ist fast ebenso witzig wie die „Schützt euch vor der Sonne“-Warnhinweise in den Umbaupausen. Was ist das, Sonne?
Sicherheit wird groß geschrieben
Auf jeden schlimmeren Schauer weist die Festival-App warnend hin. Die Ordner schauen penibel in jede noch erlaubte kleine Tasche. Sicherheit wird groß geschrieben, und an den Zugangsschleusen bleiben alle geduldig.
So manches abgesoffene Zelt wird das Camping-Areal später nicht mehr verlassen, aber auch darüber freut sich jemand: Dominik Bloh (29) und seine Helfer der Hamburger Initiative Hanseatic Help, die schon im Vorjahr über 350 für Bedürftige gespendete Zelte sammelten. Bloh, der zehn Jahre obdachlos war, weiß, dass nicht nur in Scheeßel gilt: „Ein Zelt kann eine Heimat sein.“