Bremen. Eben noch Zwei-Drittel-Mehrheit, jetzt Bangen um den entscheidenden Sitz im Parlament. Die Wähler in Bremen haben Rot-Grün heftig abgestraft.

Der Schock sitzt. Mit einer solchen Abstrafung durch die Wähler haben weder SPD noch Grüne in Bremen gerechnet. Der seit acht Jahren unter Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) regierenden rot-grünen Koalition sind unabhängig vom endgültigen Ergebnis die Flügel gestutzt. Mit bis zu sieben Parteien kommt deutlich mehr Farbe ins Parlament des kleinsten Bundeslandes. Böhrnsen, mit zehn Jahren der dienstälteste Ministerpräsident in Deutschland, stellt das Ergebnis vor eine viel schwierigere Aufgabe, als er gehofft hatte.

Zu denken geben muss den bisherigen Regierungsparteien vor allen der Verlust an Vertrauen in ihre Kompetenzen. Die Analysen zeigen in allen wichtigen Feldern wie Wirtschaft, Soziales oder Finanzen deutlich geringere Werte als vor vier Jahren. In fast allen Bereichen sind die Probleme des hoch verschuldeten Zwei-Städte-Landes in der abgelaufenen Legislaturperiode nicht kleiner geworden.

Größte Gewinner der Wahl sind die FDP und die Linken. Die Liberalen können ihren Erfolg von Hamburg an der Weser bestätigen und in den Landtag zurückkehren. Die junge Unternehmerin Lecke Steiner, die bis zum Wahltag nicht einmal Mitglied der Partei war, findet mit ihrer direkten Art Zustimmung. Die Linken profitieren offensichtlich von den großen sozialen Problem in Bremen und Bremerhaven.

Die CDU-Spitzenkandidatin Elisabeth Motschmann hat ihre nach der Wahl 2011 völlig zerstrittene Partei etwas aus dem Keller gehievt. Ein weiterer Großstadt-Absturz bleibt den Christdemokraten an der Weser damit erspart. Motschmann hält sich als Juniorpartner bereit, falls SPD und Grünen am Ende die Mehrheit fehlt. Verlierer der Wahl ist nicht nur Rot-Grün, es ist auch die Demokratie. Die Wahlbeteiligung sackte vom bisherigen Tiefstand mit 55,5 Prozent 2011 weiter ab. Fast jeder zweite Wähler blieb zu Hause.

Reaktionen aus Hamburg und Schleswig-Holstein nach der Wahl

Politiker aus Schleswig-Holstein und Hamburg haben den Wahlkämpfern in Bremen gedankt und ihre eigenen Schlüsse aus den Ergebnissen gezogen. Freude gab es vor allem bei der FDP, aber auch der CDU, die leichte Zuwächse erzielt hat. SPD-Politiker im Norden sehen trotz der Verluste ihrer Partei in Bremen einen Regierungsauftrag für die Sozialdemokraten. Reaktionen in Zitaten:

„Es ist schön, Freier Demokrat zu sein :)“ (Der schleswig-holsteinische FDP-Landesvorsitzende Heiner Garg auf Twitter, wenige Minuten nach Veröffentlichung der ersten Prognose um 18.00 Uhr.)

„Man muss auch nicht schlecht aussehen, wenn man in der Politik ist.“ (Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki am Sonntagabend über die Bremer Spitzenkandidatin der Liberalen, Lencke Steiner)

„Seit 70 Jahren stellt Bremer SPD den Bürgermeister. Das bleibt auch so und das muss man erst mal schaffen. Verluste+Beteiligung enttäuschend.“ (Der schleswig-holsteinische SPD-Landes- und Fraktionschef Ralf Stegner auf Twitter zu dem Abschneiden seiner Partei in Bremen.)

„Eine starke CDU in der Bürgerschaft wird dem Land Bremen gut tun.“ (Der schleswig-holsteinische CDU-Landesvorsitzende Ingbert Liebing zum Abschneiden seiner Partei. Rot und Grün sind seiner Ansicht nach die großen Verlierer der Bürgerschaftswahl in Bremen.)

„Ich gratuliere Bürgermeister Jens Böhrnsen zu seinem erneuerten Regierungsauftrag. Ich hätte ihm ein besseres Ergebnis gewünscht. Klar ist: Die SPD wird Bremen auch in Zukunft regieren.“ (Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) in einer Pressemitteilung.)

„Die CDU Bremen hat gut gekämpft. (...) Die Zugewinne sind Beweis für die richtige Taktik. Die Regierungskoalition, insbesondere die Grünen, hat starke Verluste hinnehmen müssen. Ich hoffe, dass in Bremen ernsthaft und ergebnisoffen über die Bildung einer großen Koalition gesprochen wird.“ (Der Landesvorsitzende der CDU Hamburg, Roland Heintze.)

„In Bremen gilt wie in Hamburg: Die SPD sitzt zwar fest im Sattel, aber mehr und mehr Menschen bauen auf eine soziale Kraft, die von links Druck für soziale Gerechtigkeit, Bildungs- und Steuergerechtigkeit macht.“ (Cansu Özdemir und Sabine Boeddinghaus, Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft, in einer Pressemitteilung.)

Die neue Regierung steht in der kommenden Wahlperiode vor schwierigen Aufgaben. Das Land mit der bundesweit höchsten Pro-Kopf-Verschuldung muss nach Einschätzung des unabhängigen Stabilitätsrates von Bund und Ländern kräftig sparen, um ab 2020 die Vorgaben der Schuldenbremse zu erfüllen und ohne neue Kredite auszukommen. Böhrnsen plädiert unter anderem für die Fortführung des Solidaritätszuschlags über 2019 hinaus und verlangt Hilfen für die Bewältigung der auf mehr als 20 Milliarden Euro aufgelaufenen Altschulden.

Bremen war nach Hamburg die zweite und letzte Landtagswahl in diesem Jahr. Bundespolitisch fielen beide Urnengänge nicht ins Gewicht. Dies wird im kommenden Jahr anders sein, wenn in fünf Bundesländern gewählt wird. Vor allem die drei Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt am 13. März werden dann ein wichtiger Stimmungstest für die Parteien in Berlin sein.

Bei der Wahl 2011 hatte die SPD noch 38,6 Prozent erzielt. Unter dem schockierenden Eindruck der Atomkatastrophe von Fukushima kamen die Grünen auf ihr Spitzenergebnis von 22,5 Prozent. Die CDU fiel mit 20,4 Prozent auf den dritten Platz zurück. Die Linke zog mit 5,6 Prozent in den Landtag ein. Dagegen scheiterte die FDP mit 2,4 Prozent klar. Die Wahlbeteiligung lag bei schlechten 55,5 Prozent.

Das ergab in der Bremischen Bürgerschaft folgende Sitzverteilung: SPD 36, Grüne 21, CDU 20, Linke 5. Außerdem holte die BIW ein Mandat. Sie profitierte von einer Besonderheit im Bremer Wahlrecht: Um in den Landtag zu kommen, reicht es, in einer der beiden Städte Bremen und Bremerhaven über 5 Prozent zu holen. Dies gelang in Bremerhaven.

Um die 83 Mandate bewarben sich diesmal elf Parteien und Gruppierungen, die NPD nur in Bremerhaven. Eine Wechselstimmung war im Wahlkampf nicht zu spüren. Umfragen zeigten eine hohe Zustimmung für Regierungschef Böhrnsen. Nach einem ZDF-„Politbarometer“ vom vergangenen Freitag wollten ihn 64 Prozent wieder als Bürgermeister haben. CDU-Konkurrentin Motschmann kam nur auf 18 Prozent. Rund 500 000 Bürger waren wahlberechtigt. Seit 2011 hat jeder von ihnen fünf Stimmen. Auch 16- und 17-Jährige durften mitwählen.

Bremer Wahl mit Auswirkungen auf die Bundespolitik

Bundespolitisch bietet die Bremen-Wahl ein paar Fingerzeige: Die FDP kann das Comeback im Bund 2017 schaffen, die AfD hat nach Streitereien ein wenig an Strahlkraft verloren. Und die SPD schwächelt sogar in ihrer Hochburg. Im Bund reicht es für Rot-Grün schon lange nicht mehr. Im Konrad-Adenauer-Haus der Bundes-CDU gibt es höflichen Applaus. Dass sich ein Debakel wie jüngst in Hamburg nicht wiederholt hat, ist für die in Großstädten notorisch schwache Partei eine Erleichterung.

Die SPD hingegen ist zwar wohl weiter in 14 von 16 Bundesländern in der Regierung, aber das hilft alles nichts für den Bund - dort ist die Union sehr weit entfernt. Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel muss sich etwas einfallen lassen. Er will von Taktik nichts wissen, sein Druck in der Spionageaffäre auf die Kanzlerin, alles auf den Tisch zu legen, hat das Zeug dazu, das Vertrauen der Bürger in Angela Merkel zu erschüttern. Aber nicht nur das, sondern auch das Arbeitsverhältnis der wichtigsten Protagonisten der Koalition, die 2017 Gegenspieler sein könnten, falls Merkel noch mal antritt und Gabriel sie herausfordert.

Fast devote Mails aus dem Kanzleramt an die US-Regierung und übertriebene Angaben im Wahlkampf 2013 zur Bereitschaft der USA für ein Abkommen über gegenseitigen Spionageverzicht erhöhen den Druck zusätzlich auf Merkel. Und richtig kompliziert ist die von Gabriel geforderte Offenlegung der Liste mit tausenden Suchbegriffen des US-Geheimdienstes NSA. Der Bundesnachrichtendienst soll der NSA möglicherweise unwissentlich geholfen haben, europäische Unternehmen und Politiker auszuforschen.

Konfrontative Momente in der Koalition könnten zunehmen - spannend wird es spätestens rund um den 13. März 2016, wenn in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und wohl in Rheinland-Pfalz gewählt wird: Diese Wahlen könnten ein Signal sein, wo die Reise im Bund künftig hingeht.

(dpa)