Ein als gefährlich eingestufter, mehrfach vorbestrafter Mann soll während eines Freigangs in Lingen ein 13 Jahre altes Mädchen missbraucht haben. Niedersachsens Justizministerin will Stellung beziehen.
Hannover/Lingen. Die grüne niedersächsische Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz gerät schon wieder unter Druck: Erst drei Tage nach der Flucht eines Sicherungsverwahrten hat das Ministerium am Dienstag die Öffentlichkeit vor dem 51-Jährigen Mann gewarnt, der am Freitagabend während des Freigangs aus dem Gefängnis Lingen im Emsland ein 13-jähriges Mädchen sexuell missbraucht hat. Die CDU nennt das Vorgehen der Ministerin unverantwortlich.
Die verwies am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Hannover darauf, Staatsanwaltschaft und Polizei hätten sich am Samstag nach Bekanntwerden des Missbrauchs dafür entschieden, den Mann mit Zielfahndern zu fassen. Durch eine öffentliche Fahndung wäre er gewarnt gewesen. Die Ministerin will nun aber auch prüfen, ob die Entscheidungen der Fachleute richtig waren, dem wegen schwerer Körperverletzung aber auch wegen Sexualdelikten verurteilten Mann im Rahmen der Therapie insgesamt fast über 300 erst begleitete und dann auch unbegleitete Freigänge zuletzt meist über mehrere Tage zu gewähren: „Wir werden die konkreten Umstände des Falles im Bereich des Vollzuges der Sicherungsverwahrung genau analysieren“. Die bislang letzte Verurteilung erfolgte 2002 und war mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung verbunden, die seit dem Jahr 2007 greift. Die letzte Verurteilung wegen einer Sexualstraftat stammt aus dem Jahr 1992.
Der Europäische Gerichtshof und auch das Bundesverfassungsgericht haben mit ihrer jüngeren Rechtsprechung dafür gesorgt, dass auch Sicherungsverwahrte therapiert werden müssen mit dem Ziel der Resozialisierung. Das Land Niedersachsen hat eben wegen der Grundsatzurteile vor Jahresfrist einen neuen Trakt im Gefängnis Rosdorf für über zwölf Millionen Euro gebaut, weil Sicherungsverwahrte auch einen Anspruch auf eine bessere Unterbringung haben als Strafgefangene.
Derzeit gibt es in Niedersachsen 42 Männer, die in Sicherungsverwahrung sitzen. Die meisten von ihnen sind in Rosdorf untergebracht aber auch Lingen hat die Fachabteilung für die Resozialisierung. Der Mann trug keine elektronische Fußfessel aber war so dreist, am Samstagmorgen nach dem sexuellen Missbrauch vom Vorabend kurz ins Gefängnis zurück zu kehren für den vorgeschriebenen Alkoholtest. Die Ministerin wollte in Hannover jetzt nicht ausschließen, dass der Mann sich inzwischen das Leben genommen hat.
Die Oppositionsparteien aber bezweifeln, dass die Ministerin drei Tage lang schwieg nur wegen des Vorrangs der Zielfahndung. Die stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Mechthild Ross-Luttmann glaubt, dass die zögerliche Öffentlichkeitsarbeit politische Gründe hatte. Ihr Verdacht: „Die Flucht des Straftäters sollte möglichst geheim gehalten werden, um eine erneute Diskussion über Freigänge von Sicherungsverwahrten zu vermeiden die den Grünen politisch offensichtlich nicht in den Kram passt“. Als „bedenklich“ bezeichnete Belit Onay, justizpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion, den Vorwurf. Auch die CDU habe im Jahr 2012 für das Gesetz zur Sicherungsverwahrung gestimmt: „Das ist die Basis für die geltende Praxis in Niedersachsen“.
Aber auch der FDP-Abgeordnete Marco Genthe kritisierte die Informationspolitik der Ministerin. Erst am kommenden Freitag wolle Niewisch-Lennartz den zuständigen Landtagsausschuss unterrichten: „Das ist ein Skandal und lässt den Respekt vor dem Parlament und seiner Rolle als Kontrollorgan vermissen“.
CDU und FDP sehen Parallelen zum zögerlichen Informationspolitik der Justizministerin im Fall des früheren SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy, gegen den wegen des Verdacht des Besitzer von Kinderpornographie ermittelt wird. Und die Opposition erinnert außerdem daran, dass einem Richter unter Korruptionsverdacht vor zwei Monaten die Flucht nach Italien gelang. Auch hier geht die Opposition von Fahndungspannen aus und pocht auf eine politische Mitverantwortung der grünen Ministerin.
Uwe Oelkers vom Verband der Niedersächsischen Strafvollzugsbediensteten (VNSB) warnte am Mittwoch mit Blick auf den jüngsten Fall, es fehle in den Gefängnissen an Experten, um die Sicherungsverwahrten zu begutachten: „Psychologen und Psychiater im öffentlichen Dienst werden zu schlecht bezahlt und machen deswegen einen weiten Bogen um den Justizvollzug“, sagte Oelkers der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.