Sie ist die erste Ministerin türkischer Herkunft in Deutschland. Die Integration sei eine Erfolgsgeschichte mit Verbesserungspotenzial.

Hannover. Aygül Özkan (40) ist die erste Ministerin türkischer Herkunft und muslimischen Glaubens in Deutschland. Die 2010 von Christian Wulff ins niedersächsische Kabinett geholte CDU-Politikerin ist stolz auf die Migrationsgeschichte ihrer Eltern, wie sie sagt. 50 Jahre nach Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens bewertet Özkan die Integration der Zuwanderer als Erfolgsgeschichte mit Verbesserungspotenzial.

Fühlen Sie sich eigentlich als Deutsche, als Deutschtürkin oder als Hannoveranerin?

Özkan: „Natürlich bin ich Deutsche, ich bin in Hamburg geboren. Meine Eltern sind vor über 40 Jahren zugewandert. Ich habe Deutschland als meine Heimat erlebt, ich kenne das Heimatland meiner Eltern nur aus Urlauben und Kurzaufenthalten. Aber ich habe türkische Wurzeln. Ich bin stolz zu sagen, meine Eltern haben eine Migrationsgeschichte. Es prägt die Familie sehr, sich in ein fremdes Land aufzumachen und sich dort durchzuboxen. Manchmal muss ich noch deutlich sagen, dass ich Deutsche bin, weil die Menschen mich fragen. Ich hoffe, dass es keine 50 Jahre mehr braucht, bis die Menschen sich nicht mehr ihrer Herkunft wegen rechtfertigen müssen.“

Auch Ihre Partei, die CDU, hat lange an dem Schlagwort „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ festgehalten. Welchen Nachholbedarf sehen Sie in der Integrationspolitik?

Özkan: „In dieser Frage haben sich alle politischen Parteien in der Vergangenheit nicht mit Ruhm bekleckert. Es ist entscheidend, dass wir jetzt die richtigen Weichen gestellt haben. Wir Deutsche neigen dazu, sehr defizitorientiert an die Dinge heranzugehen. Wir vergessen, das zu betonen, was gut läuft. Migrantische Eltern bemühen sich sehr darum, dass ihre Kinder in diesem Bildungssystem mitkommen. Auch wissenschaftliche Studien verzeichnen Verbesserungen beim Bildungserfolg von Migranten. Eltern sind die besten Vorbilder. Wir müssen die Eltern stärken, dass sie diese Vorbilder sein können.“

Ihr Vater kam als Gastarbeiter zur Deutschen Bundespost, machte sich aber nach fünf Jahren mit einer Schneiderei in Hamburg selbstständig. Hatten Sie als Gastarbeiter-Kind in der Schule Schwierigkeiten?

Özkan: „Der ganz große Vorteil bei meiner Schwester und mir war, dass unsere Eltern uns unterstützt haben. Man kann nicht pauschal sagen, dass Migranten ihre Kinder nicht unterstützen, weil sie aus bildungsfernen Schichten kommen. Großes Glück war, dass deutsche Nachbarn meinen Eltern geraten hatten, uns mit drei Jahren in die Kita zu schicken, damit wir Deutsch lernen. Nach meiner Einschulung ist mein Vater in die Elternvertretung gegangen und hat erst dort verstanden, wie das deutsche Bildungssystem funktioniert. Dann hat er mich entgegen der Grundschul-Empfehlung aufs Gymnasium geschickt.“

Sie haben Karriere gemacht. Der Filmemacher Fatih Akin oder der Fußballer Mesut Özil sind international erfolgreiche Deutsche mit türkischen Wurzeln. Auf der anderen Seite sind unter den Schulabbrechern und Arbeitslosen überproportional viele Deutschtürken. Ist die Integration gelungen oder gescheitert?

Özkan: „In der Betrachtung der 50 Jahre ist es eine Erfolgsgeschichte, ohne die Probleme vom Tisch zu wischen. Wir haben sicherlich noch Verbesserungspotenzial auf beiden Seiten. Wir haben zu wenig an unserer Willkommenskultur gearbeitet, zu wenig zum Ausdruck gebracht, dass uns die Menschen etwas wert und wichtig sind. Aber die Leistungen gibt es nicht nur von Prominenten. Die Infrastruktur in vielen Stadtteilen würde gar nicht mehr funktionieren, wenn es die migrantischen Mitbürger nicht gäbe, die in Nischen gegangen sind und mutig waren, sich selbstständig zu machen, etwa als Gemüsehändler, Schneider oder mit einem anderen Unternehmen. Wir haben auch immer mehr Polizisten und Lehrer mit Migrationshintergrund.“

Nordrhein-Westfalen will ein Integrationsgesetz mit einer Quotenregelung verabschieden, weil immer noch viel zu wenig Migranten im öffentlichen Dienst beschäftigt sind.

Özkan: „Integration gelingt nicht besser oder schlechter, wenn wir ein Gesetz schreiben. Integration gelingt vor Ort, tagtäglich. Ich möchte sehr konkret die Akteure verpflichten, dass sie mitmachen, statt alles in einen Rahmen zu gießen und zu meinen, dass sich das regelt.“

Im Bundesrat wird demnächst ein Gesetzentwurf verhandelt, wonach im Ausland erworbene Berufsabschlüsse schneller anerkennt werden. Was muss getan werden, dass Zuwanderung in Zukunft besser funktioniert als bei dem holprigen Start vor 50 Jahren?

Özkan: „Wenn wir in Europa wettbewerbsfähig bleiben wollen, brauchen wir gezielt in bestimmten Berufen Zuwanderer. Dabei ist es wichtig, auch die Familien willkommen zu heißen. Wenn wir das Anerkennungsgesetz haben, wird es von vornherein die Möglichkeit geben zu schauen, ob der Lebenspartner auch in Deutschland eine Perspektive hat. Nur so schaffen wir eine Anerkennungskultur und ein Zugehörigkeitsgefühl. Wir dürfen auf keinen Fall die Fehler der Vergangenheit wiederholen.“

Wie empfinden Sie das Klima zwischen der türkischen Community und der deutschen Bevölkerung, nach dem Wirbel um Thilo Sarrazin vor einem Jahr, der in seinem Buch integrationsunwillige Muslime beschimpft?

Özkan: „Dieses Buch ging gegen bestimmte Gruppen innerhalb unserer Gesellschaft. Das hat verletzt. Für die Menschen wie meinen Vater, die tagtäglich sehr viel leisten, weil sie selbst Arbeitnehmer oder Arbeitgeber sind, war das ein Schlag ins Gesicht. Aber es hat viele junge Migranten mobilisiert, die das nicht hinnehmen wollen und sich engagieren. Wer am Stammtisch oder im Freundeskreis Sarrazins Buch zum Anlass nimmt und sagt, es ist ja alles ganz schlimm, die bringen sich nicht ein, den frage ich: Was tust du denn? Wir haben in Niedersachsen 1500 Integrationslotsen in den letzten fünf Jahren ausgebildet. Ich lade jeden Kritiker ein, sich etwa als Lesepate für Kinder oder Jugendliche mit Migrationshintergrund einzusetzen.“