Rügen. Der Greifswalder Bodden ist ihre wichtigste Kinderstube. Dort gibt es immer weniger Larven. Liegt das am wärmeren Wasser?
Messstelle 302 im Greifswalder Bodden: Bootsmann Gerald Schmidt und Biologie-Student Gai Fox ziehen ein feinlöchriges Netz aus dem Greifswalder Bodden an Bord des Forschungsschiffs „Clupea“. Das Gerät, das wegen seiner zwei Fangsäcke auch Bongonetz genannt wird, holt alles an Bord, was in der etwa sieben Meter hohen Wassersäule schwimmt: Meerasseln, kleine Krebse und Plankton. Doch die Ausbeute ihres eigentlichen Forschungsobjektes ist mies. Nur 24 Heringslarven schwimmen in den beiden Netzbechern des Fanggerätes.
Kinderstube zwischen Rügen und Usedom
Die Meeresbucht zwischen den Inseln Rügen und Usedom gilt als die bedeutendste Kinderstube für den Heringsbestand in der westlichen Ostsee. „Der Greifswalder Bodden ist wie eine große Paella-Pfanne geformt, mit wenig Strömung und einem großen Nährstoffangebot für die Larven“, sagt Christopher Zimmermann, Direktor des Thünen-Instituts für Ostseefischerei. Das prädestiniert das Gebiet für die Eiablage. Rund 80 Prozent des westlichen Ostsee-Heringsbestandes haben hier nach Angaben des Instituts ihren Geburtsort.
Seit 1977 messen die Fischereibiologen in jedem Frühjahr im Greifswalder Bodden die jährlichen Larvenzahlen. Der „Rügen Herings Larvensurvey (RHLS)“ gilt laut Thünen-Institut als weltweit längste Zeitreihe für die frühe Lebensphase einer kommerziell genutzten Fischart. An 36 Stationen entnehmen Biologen in der Meeresbucht über 16 Wochen von März bis Juni Proben, aus denen sie die Zahlen der geschlüpften Larven und deren Sterblichkeit bestimmen.
Seit 2004 schwächeln Nachwuchsjahrgänge
Doch die Forscher sind wegen der Langzeitmessungen beunruhigt. Seit 2004 produziert dieser Bestand schwächelnde Nachwuchsjahrgänge. „Im Jahr 2016 hatten wir den schlechtesten Jahrgang seit 1990“, sagt Zimmermann. Die Werte von 2016 lagen damit bei rund einem Fünfzehntel der durchschnittlichen Langzeitwerte und einem Fünfzigstel des Spitzenwertes von 1996 mit 21 Milliarden Larven. Auch für dieses Jahr sehen die Prognosen eher schlecht aus.
Die Forscher haben dafür nun erstmals eine ihnen schlüssig erscheinende Erklärung. Sie vermuten, dass ein Bündel von natürlichen Ursachen die hohe Sterblichkeit von Larven in einem frühen Stadium verursacht. Ausgelöst könnte dies sein durch eine – wenn auch nur um ein halbes Grad – erhöhte klimabedingte Wassertemperatur in der Ostsee. Ausreichend, um die fein justierte Nahrungskette zu stören. Ergebnis: „Die Larven verhungern schlichtweg“, sagt Zimmermann. „Wir wissen, dass die Temperatur in den Überwinterungsgebieten des Heringsbestandes im Öresund die Einwanderung der laichbereiten Heringe in den Greifswalder Bodden triggert.“ Ist die Temperatur dort auch nur geringfügig höher, wandert der Hering früher in den Laichgrund ein.
In der Nahrungskette klaffen Lücken
Im Greifswalder Bodden entwickeln sich die Eier bei höheren Temperaturen schneller, die Larven schlüpfen früher. Zudem benötigen die Larven, wenn nach etwa einer Woche deren Dottersack aufgezehrt ist, sofort Nahrung. Normalerweise gebe es dort zeitgleich Kleinkrebse, sagt Zimmermann. Doch diese Kleinkrebse ernähren sich von Phytoplankton, das nicht temperatur-, sondern lichtgesteuert wächst. Damit klaffen wichtige Faktoren in einer bislang geschlossenen Nahrungskette auseinander. Denn anders als die Temperatur in den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Lichtangebot im Frühjahr nicht verändert.
Hinzu komme ein weiterer Aspekt: Kleine fädige Algen wie Grün- und Braunalgen würden mit zeitig steigenden Wassertemperaturen und wachsendem Nährstoffangebot zu einer Konkurrenz für die Seegräser und Großalgen wie den Blasentang, auf denen die Heringe ihre Eier ablegen. Die Folge: „Die Gelege auf den Großalgen werden von den fädigen Algen überwachsen. Die Eier können sich nicht mehr optimal entwickeln.“ Sollte sich der Einfluss der Wassertemperatur auf die Sterblichkeit der Larven so bestätigen, wäre dies ein erster Hinweis des Klimawandels auf die Entwicklung eines Fischbestandes.
Auch junge Heringe werden immer weniger
Die Sterblichkeit des Heringsnachwuchses hat schon jetzt Auswirkungen auf die Entwicklung des Bestandes insgesamt. Erstmals konnten im vergangenen Jahr Forscher aus Deutschland und anderen Ostseeanrainern im Monitoring der ein- und zweijährigen Heringe ebenfalls einen Rückgang der Bestandszahlen beobachten – und das im gesamten Verbreitungsgebiet. Hinzu komme, dass der Anteil kleiner Heringe in den Schleppnetzen der Fischer gesunken sei, was auf schlechtere Jahrgänge schließen lasse. Aus diesem Grunde haben die Forscher vor Kurzem die Eingangsdaten für die Berechnung geändert.
So hat der Internationale Rat für Meeresforschung (ICES), dem 20 Nationen entlang des Atlantiks, der Nordsee und Ostsee angehören, die Biomasse-Größe für den Bestand korrigiert. Statt auf 115.000 Tonnen wird der Bestand nur noch auf 95.000 Tonnen geschätzt. Damit wäre diese Population nicht mehr im grünen Bereich – mit drastischen Folgen für die Fischerei, nämlich einer deutlichen Absenkung der Quoten.