Wentorf. Vor 30 Jahren fiel der Entschluss zum Abzug der 16. Panzergrenadierbrigade. Start für den größten Veränderungsprozess der Gemeinde.
Vermutlich gibt es bislang kein Ereignis, das Wentorf auf einen Schlag so veränderte, wie der Abzug der Bundeswehr. Der Entschluss dazu fiel vor 30 Jahren, Ende 1992 in Bonn. „Für uns war das ein Schock“, erinnert sich der damalige Bürgermeister Holger Gruhnke. Von 1987 bis 2005 leitete er die Wentorfer Verwaltung und stand vor der Herausforderung, gut die Hälfte seiner Gemeindefläche – immerhin 50 Hektar – nach Abzug der Bundeswehr komplett neu zu planen.
„Wentorf und die Bundeswehr – das war eins“, sagt der heute 74-Jährige. Immerhin rund ein Drittel von Wentorfs Einwohnern waren Bundeswehrsoldaten. Man pflegte ein gutes Miteinander, stellte zusammen das Rathausfest auf die Beine, und wenn die Truppe ausrückte, „lag ein Wummern über dem gesamten Ort“, sagt der Pensionär. 800 Fahrzeuge jeglicher Art und Größe zählte der Fuhrpark der 16. Panzergrenadierbrigade.
Nach Abzug der Bundeswehr in Wentorf: Gelände sollte nicht brach liegen
„Alle Versuche, den Abzug zu verhindern, waren vergeblich“, sagt der einstige Hamburger Verwaltungsbeamte. „Wir mussten uns mit der Entscheidung abfinden und schnell eine Antwort auf die
Frage finden, was mit dem Gelände passieren soll.“ Denn in keinem Fall sollte es brach liegen.
Nur drei Monate später beschloss die Gemeindevertretung, die Planungshoheit über das Gelände ausüben zu wollen. Mit Hilfe eines Hamburger Planungsbüros entwickelte die Gemeinde Ideen, wie das Gelände genutzt und bebaut werden soll. Sie verfolgte zwei Grundsätze: Alles Neue sollte sich in das Bestehende einfügen und in Größe und Ausmaß nicht überbieten.
Sieben Bebauungspläne in weniger als einem Jahr
„Wir haben bei unseren Planungen bestehende Gebiete quasi fortgeführt“, sagt Gruhnke. „Einfamilienhäuser zu Einfamilienhäusern, Gewerbe zu Gewerbe, und keine Wohnbebauung durfte mehr als vier Geschosse haben“, fasst Gruhnke zusammen, der diese Zeit als „wahre Planungsorgie“ bezeichnet. Umso mehr darf er im Rückblick stolz darauf sein, dass es ihm, seiner Verwaltung, der Politik und externen Planungsbüros gelungen ist, sieben Bebauungspläne in weniger als einem Jahr aufzustellen.
Im September 1996 rollten die ersten Bagger an, begonnen die Abrissarbeiten der meisten Kasernengebäude. Unterschiedliche Wohnformen für jedes Alters und jeden Geldbeutel sollten stattdessen entstehen.
1500 neue Wohneinheiten für 3100 Menschen in Wentorf
„Meine Horrorvorstellung war, dass ein Investor das gesamte Gebiet bebaut und alles gleich aussieht“, sagt Gruhnke. Das konnte verhindert werden: Heute gibt es neben Einfamilienhäusern auch Reihenhäuser und Geschosswohnungen. „ Geschosswohnungen waren vor 30 Jahren aus der Mode. Die wollte keiner bauen“, erinnert sich Gruhnke. Insgesamt 1500 Wohneinheiten sind mit verschiedenen Bauträgern entstanden. 3100 Menschen haben eine neue Bleibe gefunden. Etwa ein Viertel der Wohnungen und Häuser bezogen Wentorfer.
Darunter war auch die Familie von Andreas Hein, dem 2019 verstorbenen Bürgervorsteher. Am 30. März 1999 – früher als geplant – bezog die dreiköpfige Familie unter großem Presseaufgebot als erste ihre Wohnung auf dem umgestalteten Kasernengelände am Sachsenring. Damals war vor dem Haus noch eine Sandwüste, erinnerte sich der einstige Berufssoldat Andreas Hein zum zehnjährigen Einzugsjubiläum in unserer Zeitung.
Wentorf ist mittlerweile gefragter denn je
2002 – da gab es bereits Gehwege vor dem Haus – bekamen die Heins neue Nachbarn: Holger Gruhnke, seine Frau und Tochter bezogen im Haus gegenüber die Erdgeschosswohnung. Die Familie hatte ihr Haus am Achtern Höben verkauft, Gruhnkes damals bereits kranke Frau wurden die Treppen zu viel. Die Wohnung und seine Aufgabe, Wentorf ein neues Gesicht zu geben, bezeichnet Holger Gruhnke im Rückblick als großes Glück.
Heute ist Wentorf als Wohnort gefragter denn je – wohl auch, weil es in den neuen Wohngebieten kein Durchgangsverkehr, viel Grün mit altem und neuen Baumbestand und viele Spielplätze gibt. „Wentorf ist in den vergangenen Jahrzehnten städtischer geworden und hat mit dem Casinopark eine eigene Ortsmitte erhalten“, sagt Gruhnke. Einzelhändler versorgen umliegende Gemeinden und Teile Bergedorfs.
Der Bau fiel in Gruhnkes Amtszeit, der die Mischung aus Gewerbe im Erdgeschoss und Wohnraum im Obergeschoss gelungen findet. Einzig die Windverhältnisse hätten sie damals nicht bedacht. „Die Zugigkeit des Platzes bemängeln viele Wentorfer zu recht“, sagt Gruhnke.