Brunstorf. Bis vor wenigen Monaten lebte Thomas H. in Hamburg auf der Straße. Nun ist er Mieter bei Vereinsgründerin Sylvia Senger aus Brunstorf.
„Sorry für das Chaos hier. Aber wir haben Kleidung für die Verteilung fertig gemacht“, begrüßt mich Thomas H. und zeigt auf die blauen Säcke voller warmer Kleidung, die sich im Flur seiner Wohnung in Brunstorf stapeln. Später werden sie in den Transporter geladen und nach Hamburg gefahren, wo Sylvia Senger, Gründerin des Vereins Zwischenstopp Straße Obdachlosenhilfe Hamburg, gemeinsam mit weiteren Helfern die Kleidung an Obdachlose verteilt. Drei Mal in der Woche an zwei verschiedenen Standorten. Rund 200 Menschen ohne ein Zuhause warten dort stets auf sie. Stehen Schlange für eine warme Mahlzeit oder eine dicke Jacke, um sich auszurüsten für die nächsten klirrendkalten Nächte unter freiem Himmel.
Bis vor wenigen Monaten war Thomas H., der seinen vollen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen und lieber Peppi genannt werden möchte, einer von ihnen. 30 Jahre lang hat der 52-Jährige auf der Straße gelebt, davon 20 Jahre auf dem Kiez. Ohne Dach über dem Kopf, ohne Job, ohne Perspektive. Ein Leben? Nein, ein Leben war das nicht, sagt er und schüttelt den Kopf. Es drehte sich alles um die Droge Alkohol. Wenn er morgens an seinem festen Schlafplatz vor dem Schmidt Theater aufwachte, war sein erster Gedanke, dass er was zu trinken braucht. Der Werbe-Slogan „Erstmal zu Penny“ bekommt durch seine Worte plötzlich eine andere Bedeutung. Ein Becher Kaffee? Frühstück? „Alles egal“, winkt er ab. Alle Tage waren gleich. Die Stunden rauschten im Rausch vorbei. Bis er sich abends betrunken in seinen Schlafsack legte, um am nächsten Morgen weiterzutrinken. Aussteigen? Nein, solche Gedanken kamen nur selten. „Dafür fehlten die Zeit und die Konzentration“, sagt er. Und auch die Hoffnung.
Thomas H. hat nach 30 Jahren Obdachlosigkeit wieder eine Wohnung
Der große, schmale Mann mit dem kurzrasierten Haar und den Tattoos am Hals und an den Händen erzählt mit ruhigen Worten seine Geschichte. Großgeworden bei Adoptiveltern im Sauerland, einer erzkatholischen Region, großbürgerliches Elternhaus, „spießig“, sagt Peppi. Alkohol? Wurde dort nicht getrunken. Und doch hat er schon mit zwölf Jahren das erste Mal Kontakt zu der Droge gehabt, hing bereits mit 13 Jahren an der Flasche.
„Das war eine harte Zeit, als Adoptivkind wurdest du ausgegrenzt.“ Viel Freude hatte er schon damals an der Natur, ging oft in den nahen Wald, um Ruhe zu finden. Aber eine Perspektive gab es dort für ihn nicht. Schule? Ja, Hauptschulabschluss. Lehre? Straßen- und Tiefbauer sollte er werden. Wollte er aber nicht. Also ging er. Mit 20 verließ Peppi das Sauerland und tingelte zehn Jahre kreuz und quer durchs Land, jobbte mal als Tierpfleger, bis er in Hamburg landete.
Viele Krankenhäuser wollen keine Obdachlosen mehr aufnehmen
Mit Sylvia Senger vom Verein Zwischenstopp Straße Obdachlosenhilfe Hamburg hatte er schon länger ab und an Kontakt. Sie war es, die ihn vergangenen Sommer auf der Reeperbahn in einem gesundheitlich völlig desolaten Zustand fand und ins Krankenhaus bringen wollte. Aber sie wusste aus Erfahrung: Eine Behandlung für ihn zu bekommen, würde nicht leicht werden – und war es auch nicht. „Die meisten Krankenhäuser wollen keine Obdachlosen aufnehmen“, kritisiert sie. Aber couragiert, wie die 45-Jährige ist, hat sie sich für ihn stark gemacht. Und so wurde er im Krankenhaus St. Georg behandelt. Danach ging es für zweieinhalb Monate in die SOS Station nach Serahn, Mecklenburg Vorpommern, wo er einen Entzug machte. Der erste Schritt in ein neues Leben.
Ohne die Hilfe des Vereins hätte er das nicht geschafft
Heute hat Peppi seine erste eigene Wohnung, als Mieter bei Sylvia Senger. Zum ersten Mal ein Dach über dem Kopf. Ein eigenes Bett. Eine Küche. Was für die meisten eine Selbstverständlichkeit ist, ist für ihn noch immer neu. Die ersten Nächte habe er weiterhin im Schlafsack geschlafen, das war er gewohnt. „Nach all den Jahren auf der Straße, in denen es nur um Beschaffung von Alkohol ging, musste ich erstmal lernen, meinen Tag zu strukturieren, Grenzen zu setzen, Grenzen zu spüren“, sagt er.
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Dabei helfen ihm nicht nur Sylvia Senger, die ihn weiterhin betreut, sondern seit Kurzem auch „Dante“, eine französische Bulldogge mit großen dunklen Augen und dem hellen, weichen Fell. „Er ist mein Therapeut“, lacht Peppi und streichelt den Hund. Dante spüre, wenn es ihm nicht gut gehe und habe ihn schon so manches Mal vor „etwas Dummen“ bewahrt“, gesteht der 52-Jährige. Denn – die Sucht ist nicht vorbei, streckt noch immer ab und an ihre Tentakeln aus. Aber für Peppi steht fest: Da, wo er herkommt, da will er nie wieder hin.
Nach Hamburg möchte der 52-Jährige erst einmal nicht wieder hin
Jetzt heißt es für ihn erstmal ankommen. In der ersten eigenen Wohnung. Bei sich. Ohne die Hilfe durch den Verein Zwischenstopp Straße hätte er das nicht geschafft. Das weiß er. „Ich bin jetzt auf der anderen Seite“, sagt er erleichtert. Er hilft, Kleiderspenden zu sortieren oder beim Zubereiten warmer Mahlzeiten. Nur nach Hamburg – da möchte er erstmal nicht wieder hin. „Ich genieße die Ruhe hier“, sagt er. Ein Spaziergang mit „Dante“ in der Natur sei für ihn jetzt mehr Wert als alles andere.