Büchen. Kunsthistorikerin Anja Kretschmar hat den Tod zu ihrem Beruf gemacht. Beim Rundgang auf dem Friedhof Büchen ist Gänsehaut garantiert.

Wissenswert, spannend und ganz schön gruselig – wenn Anja Kretschmar Besucher in der Abenddämmerung über Friedhöfe führt, ist von allem etwas dabei. Seit elf Jahren schlüpft die Kunsthistorikerin aus Rostock in die Rolle der „Schwarzen Witwe“. Am Freitag, 4. November, lehrt sie auf dem Friedhof Büchen das Fürchten.

Anja Kretschmar nimmt die Besucher mit auf eine Zeitreise in das späte 19. Jahrhundert. Sie hat gerade ihren Gatten verloren. Was die Dame hinter vorgehaltener Hand den Teilnehmern verrät: Sie selbst hat ihn ins Jenseits befördert. „Damals war es undenkbar, als Frau allein durchs Leben zu gehen. Da musste man sich schon mal um eine gute Partie kümmern und dafür eben über Leichen gehen“, erzählt sie augenzwinkernd.

Friedhof Büchen: Von Leichenfett, Wiederkehrern und anderem Aberglauben

Zur Zeit der „Schwarzen Witwe“ wurde das Thema Tod vom Aberglauben beherrscht. Und spätestens, wenn Anja Kretschmar erzählt, was es mit Leichenfett auf sich hat, jagt sie den Besuchern eine Gänsehaut über den Rücken. Weil man damals glaubte, dass dieses spezielle Fett gegen Rheuma und Arthritis hilft, musste nämlich so mancher Zeitgenosse vorzeitig das Zeitliche segnen.

Die „Schwarze Witwe“ erzählt auch, warum man einen Sterbenden nie beim Namen rufen darf oder was die Taube mit dem Tod zu tun hat. Was ist ein Leichenbitter? Was sind Totenkronen? Und warum wurden Verstorbene festgebunden oder ihnen Erbsen mit in den Sarg gelegt? Oder ist gar die Uhr stehengeblieben? Dann ist der Tod im Haus nicht mehr fern.

Große Angst, lebendig begraben zu werden

Die größte Angst der Menschen war damals jedoch, als Scheintote lebendig begraben zu werden. Auch von Wiederkehrern war die Rede. Das waren in der Gedankenwelt unserer Ahnen Verstorbene, die in die Welt der Lebenden zurückkehren. Auch dieser Aberglaube hatte einen realen Hintergrund. Gräber wurden zu dieser Zeit noch nicht sehr tief ausgehoben. So konnte es passieren, dass zum Beispiel nach starkem Regen Leichenteile oder Knochen an die Erdoberfläche gespült wurden. Das führte zu Geschichten über scheinbar wandelnde Tote.

Anja Kretschmar schafft es, den Tod während ihrer Führungen aus vielen Perspektiven zu betrachten. Ihr gelingt der Spagat, das ernste Thema auch von einer skurrilen Seite aus zu beschreiben.

Den Tod in all seinen Facetten vom Tabu befreien

Wie kommt man auf die Idee, sich mit Geschichten über den Tod selbstständig zu machen? Für Anja Kretschmar war das nie ein abwegiger Gedanke. „Ich habe meine Doktorarbeit zum Thema Friedhofskultur geschrieben. Schon damals habe ich gemerkt, dass das Thema in allen Facetten eine gewisse Faszination auf die Menschen ausübt“, erzählt sie.

Dann hat sie es einfach mal ausprobiert. Sie schlüpfte in die Rolle der „Schwarzen Witwe“ und stellte das Konzept in Friedhofsverwaltungen vor. Anfangs musste sie noch Klinken putzen. Mittlerweile ist die Kunstfigur gut gebucht. „Friedhöfe sind heutzutage auch Veranstaltungsorte. Da passt mein Konzept gut rein“, hat sie festgestellt.

Aufklärung über den Tod

Den Menschen die Angst vor dem Tod nehmen und mit der eigenen Endlichkeit konfrontieren, das ist ihre Passion. „Ich möchte keine Ratschläge zum Thema Bestattung geben, sondern den Menschen das Thema auf eine ganz unverfängliche und humorvolle Art und Weise näherbringen“, so ihr Anspruch.

Anja Kretschmar ist nicht nur als „Schwarze Witwe“ unterwegs. Sie ist außerdem Trauerrednerin, Wissenschaftlerin und Buchautorin. Vor drei Jahren erschien ihr Buch „Friedhofsgeflüster“. Ein Kritiker schreibt auf der Webseite des Buchhandels Thalia: „In diesem Buch wird altes und längst vergessenes Brauchtum neben uraltem Wissen verwahrt, wissenschaftlich fundiert und auf herzerfrischende Art mit einer ganz persönlichen Note der Autorin wiedergegeben.“

Die Führung mit der „Schwarzen Witwe“ am Freitag, 4. November, beginnt um 17 Uhr an der Kapelle auf dem Büchener Waldfriedhof. Karten zum Preis von 18 Euro gibt es im Kirchenbüro, Lindenweg 17 .

Die Angst, lebendig begraben zu werden

Zur Zeit der Aufklärung herrschte eine geradezu hysterische Angst, lebendig begraben zu werden. Im 18. und 19. Jahrhundert waren Geschichten zum Scheintod in aller Munde, und auch die Medizin setzte sich intensiv mit dem Thema auseinander. Immer wieder tauchten Berichte auf, die Beweise für Untote liefern wollten. Bei Exhumierungen wurden Kratzspuren an der Innenseite von Sargdeckeln entdeckt und die Leichen in merkwürdigen Positionen vorgefunden.

Die Wissenschaft war noch nicht weit genug, um die chemischen Prozesse während der Verwesung zu verstehen. Fäulnisgase sorgen für Bewegungen des verstorbenen Körpers und so kam es sogar vor, dass Föten in Särgen von schwanger verstorbenen Frauen gefunden wurden. Angeheizt wurde die Furcht vor dem Scheintod durch eine Berichtesammlung des französischen Arztes Jean-Jacques Bruhier.

Sein Werk beschreibt zahlreiche Fälle vermeintlich Toter und erklärt die Ungewissheit der Todesanzeichen. Die Schrift wurde in mehrere Sprachen übersetzt und verstärkte die Furcht, lebendig begraben zu werden. Schriftsteller wie Goethe und Poe setzten sich mit dem Thema auseinander und sorgten dafür, dass das Thema präsent blieb.(Quelle: Magazin Mymoria)