Geesthacht. Vor 60 Jahren kam Hitlers Nachfolger auf Einladung von Uwe Barschel in die Stadt. Nach der „Dönitz-Affäre“ beging der Rektor Selbstmord

Der Zweite Weltkrieg ist keine 18 Jahre her, über die Schrecken der Nazi-Verbrechen wird in Deutschland kaum gesprochen. Der Geschichtsunterricht endet meist im Jahr 1918. In diese Zeit fällt der Besuch von Großadmiral a.D. Karl Dönitz am Otto-Hahn-Gymnasium in Geesthacht. Das letzte Staatsoberhaupt des Dritten Reichs ist im Januar 1963 auf Einladung des damaligen Schülersprechers und späteren schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel ans OHG gekommen.

Der verherrlichende Vortrag des verurteilten Kriegsverbrechers Dönitz, das unkritische Verhalten von Lehrern und Schülern sowie das euphorische Lob eines damaligen Redakteurs der „Lauenburgischen Landeszeitung“, Karl Mührl, lösen einen internationalen Sturm der Entrüstung aus. „Die Zeit“, Der „Spiegel“ und „Le Monde“ – sie alle berichten daraufhin über die Dönitz-Affäre. Der damalige Rektor ist dem Druck nicht gewachsen und begeht Selbstmord. Das alles ist jetzt 60 Jahre her.

Dönitz-Affäre. Karl Dönitz war verurteilter Kriegsverbrecher

Am Otto-Hahn-Gymnasium diskutierten Schüler der oberen Jahrgänge seinerzeit regelmäßig mit Politikern, Gewerkschaftern oder Offizieren. Für die siebte Fragestunde diese Art am 22. Januar 1963 schlug Geschichtslehrer Heinrich Kock, ein früherer Oberleutnant, den in den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen zu zehn Jahren Gefängnis verurteilten Dönitz als Gast vor. Kock, damals auch CDU-Vorsitzender in Geesthacht, Dönitz und Mührl kannten sich.

Als „Geschichtsunterricht in höchster Vollendung“ bezeichnete der anwesende Lokaljournalist die Ausführungen von Dönitz auf einer Sonderseite in der „Geesthachter Zeitung“, wie unsere Zeitung damals hieß. „Genauso, wie er im Krieg seine U-Boot-Soldaten begeisterte und zu höchsten Leistungen anspornte, zog er auch diese Jugend schnell in seinen Bann“, schrieb Mührl begeistert und berichtete von minutenlangem Applaus.

Weltweites Medienecho nach Besuch des Großadmirals

Stefan Netzebandt ist ehemaliger Schülersprecher am Otto-Hahn-Gymnasium Geesthacht. Heute macht er Podcasts bei der „Bild“. Für einen Beitrag zur Barschel-Affäre, hat er dessen Beitrag an der Dönitz-Affäre thematisiert.
Stefan Netzebandt ist ehemaliger Schülersprecher am Otto-Hahn-Gymnasium Geesthacht. Heute macht er Podcasts bei der „Bild“. Für einen Beitrag zur Barschel-Affäre, hat er dessen Beitrag an der Dönitz-Affäre thematisiert. © Hillig | Matti Hillig

Eine gute Woche später wurden der Kieler Landesregierung erstmals Fragen gestellt, warum ein Kriegsverbrecher ungefiltert über sein Geschichtsbild referieren durfte. So hatte Dönitz unter anderem den deutschen Angriff auf Norwegen, bei dem der Hitler-Nachfolger die U-Boot-Flotte befehligte, mit dem Betreten eines für jedermann zugänglichen Bäckerladens verglichen. Der Anfang des riesigen Medienechos, in dessen Folge es sogar eine Anfrage im britischen Unterhaus zu dem Thema gegeben hatte. Die DDR-Zeitung „Neue Deutschland“ witterte faschistische Umtriebe.

Den Vorschlag aus Kiel, der Landesbeauftragte für staatsbürgerliche Bildung solle Gast einer weiteren Fragestunde am Otto-Hahn-Gymnasium werden, lehnte der als unpolitisch geltende Rektor Georg Rühsen ab. Der Vorfall werde schulintern aufgearbeitet. Diese Reaktion führte zu weiteren Berichten, etwa in der „Zeit“. Demnach sei der Oberstudiendirektor „der festen Überzeugung, dass die Ausführungen des Großadmirals a.D. weder einer sofortigen Berichtigung noch einer Ergänzung oder auch nur einer kritischen Zwischenfrage bedurften“.

Rektor Georg Rühsen: Selbstmord in der Elbe

Daraufhin wurde ein Regierungsrat des Kultusministeriums nach Geesthacht geschickt und besprach sich fünf Stunden mit dem Rektor. Über Inhalte oder etwaige Disziplinarmaßnahmen ist nichts bekannt. Doch kurz nachdem der Regierungsrat gegangen war, schrieb Rühsen seiner Frau einen Abschiedsbrief. „Liebe Lonny, nimm es mir nicht übel. Ich gehe in den Tod.“ Auf dem Weg zur Elbe wurde er am 8. Februar das letzte Mal lebend gesehen. Er stürzte sich am Stauwehr in die Fluten. Seine Leiche wurde am 25. April 1963 gefunden.

Öffentlich gesprochen wurde über die Dönitz-Affäre in Geesthacht lange nicht. 1990 wurde die „Dönitz-Affäre“ auf einer halben Seite im 50-Jahr-Buch des OHG behandelt. Die erste öffentliche Diskussion in der Stadt fand 2010 im Krügerschen Haus in Geesthacht statt. Die Veranstaltung war mit 50 Besuchern ausverkauft, andere warteten noch vor der Tür.

50 Jahre später sind Gemüter noch erregt

Der ehemalige Schüler Lutz Fähser war als Zeitzeuge geladen. „Wir haben uns nicht bemüht, ein objektives Geschichtsbild herzustellen, sondern Dönitz als Quelle für eine Zeit benutzt, die uns so viel Kopfzerbrechen bereitet hat“, sagte er damals. Fähser erinnerte auch daran, dass er ein Jahr später anlässlich seines Schulabschlusses 1964 eine kritische Rede zur Dönitz-Affäre hielt. Daraufhin diskutierte die OHG-Lehrerschaft darüber, ihm das Abitur wieder zu entziehen.

Doch selbst ein halbes Jahrhundert später spaltete die Dönitz-Affäre noch die Gemüter. Einige der damals im Krügerschen Haus Anwesenden und ehemalige Gymnasiasten schoben die alleinige Schuld den Medien zu, die das Thema aufgebauscht hätten. Mit einem Zeitzeugen aus der Nachbarschaft zu diskutieren, Dönitz lebte in Aumühle, sei nicht verwerflich. „Dönitz war nicht nur Zeitzeuge des Dritten Reichs. Den konnte man nicht auf Schüler loslassen, die keine Ahnung haben“, hielt Dönitz-Forscher Dr. Dieter Hartwig damals dagegen.

Erster Preis für OHG bei Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten

Der damalige Bundespräsident Christian Wulff überreicht der ehemaligen OHG-Schülerin Luise Jacobs am 18. November 2011 im Schloss Bellevue stellvertretend die Urkunde für den ersten Preis im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten.
Der damalige Bundespräsident Christian Wulff überreicht der ehemaligen OHG-Schülerin Luise Jacobs am 18. November 2011 im Schloss Bellevue stellvertretend die Urkunde für den ersten Preis im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. © dpa | Jörg Carstensen

Eine umfassende Aufarbeitung erfolgte 2011 am Otto-Hahn-Gymnasium. Ein Jahr lang forschten angehende Abiturienten mit Lehrerin Susanne Falkson zur „Dönitz-Affäre“. Ihr Beitrag mit dem Untertitel „Der Großadmiral und die kleine Stadt“ ist 63 Seiten lang und über die Homepage ohg-geesthacht.de abrufbar. Damit gewann die Geesthachter Schule beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten „Aufsehen, Empörung, Ärgernis: Skandale“ den ersten Preis. Von Bundespräsident Christian Wulff gab es im Schloss Bellevue persönlich eine Urkunde.

Einer der Nachfolger von Uwe Barschel als Schülersprecher am OHG war Stefan Netzebandt. Dieser ist heute Audiochef bei der „Bild“ und hat sich jetzt beruflich der Dönitz-Affäre gewidmet. Im True Crime Podcast „Tatort Deutschland“, der am 13. und 14. April erscheint, geht es vordergründig um die Barschel-Affäre. Barschel war 1987 nach dieser tot in einer Badewanne eines Schweizer Hotels aufgefunden worden. „Unsere damalige Schülerzeitung ,Der Morgenkaffee’ war schon gedruckt. Wir haben damals dann noch vier Sonderseiten gemacht“, erinnert sich Netzebandt.

Im Bild-Podcast geht es auch um Barschels Beteiligung an der Dönitz-Affäre. „Man kann festhalten, dass es der erste Schatten auf der Bilderbuch-Karriere des späteren Politik-Stars gewesen ist“, sagt Netzebandt.