Abiturienten arbeiten den Auftritt des Großadmirals Karl Dönitz an Geesthachter Schule auf und gewinnen damit Preis des Bundespräsidenten
Geesthacht. Das altehrwürdige Gebäude des Städtischen Gymnasiums gibt es längst nicht mehr. Nichts an dem modernen Nachfolgebau erinnert mehr an die Zeit, als die Schule im ehemaligen Verwaltungsgebäude der Dynamit Nobel AG untergebracht war. Auch der Name ist anders - Otto-Hahn-Gymnasium. Und doch erinnern sich in Geesthacht wieder ganz viele an einen Vorfall in dieser alten Schule, der vor fast 50 Jahren bundesweit und darüber hinaus für Schlagzeilen gesorgt hatte.
Susanne Falkson, Lehrerin für Deutsch und Geschichte am Otto-Hahn-Gymnasium, hat schon von Berufs wegen ein großes Interesse an Geschehnissen aus früherer Zeit. Und sie versteht es, ihre Schüler zu begeistern. Für ihr Dossier "Die Dönitz-Affäre. Der Großadmiral und die kleine Stadt" hat ihre Klasse, die im Sommer Abitur gemacht hat, den ersten Preis beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten gewonnen. Thema: "Ärgernis, Aufsehen, Empörung: Skandale in der Geschichte".
Im Januar 1963 hatte der Großadmiral a. D. Karl Dönitz die Einladung zu einer Geschichtsstunde ins Städtische Gymnasium angenommen. Der damalige Schülersprecher Uwe Barschel, späterer schleswig-holsteinischer Ministerpräsident, hatte Dönitz, den Adolf Hitler zu seinem Nachfolger bestimmt hatte, an die Schule geholt. Die fehlende kritische Auseinandersetzung hatte im Nachgang zu einem politischen Skandal geführt, in dessen Folge sich der damalige Schulleiter das Leben nahm.
"War das Unerhörte nur die Einladung an Dönitz oder war es die Tatsache, dass sich seitens der Schule und in der Stadt niemand an der Veranstaltung störte?", fragten sich die 22 Schüler des 13. Jahrgangs, die die Geschehnisse jener Tage in einem Klassenprojekt aufgearbeitet haben.
Dass das Thema immer noch die Emotionen in der Stadt hochkochen lässt, hatte Susanne Falkson im Februar 2010 bei einer Veranstaltung zu einer Dönitz-Biografie im Stadtmuseum Geesthacht festgestellt, bei der auch ehemalige Gymnasiasten aus den 60er-Jahren unter den Zuhörern waren.
"Die Schüler haben schnell Blut geleckt", sagt Falkson. Und so fingen diese an nachzuforschen: in Zeitungsarchiven, im Landesarchiv, und sie konnten darüber hinaus eine Reihe von Zeitzeugen, darunter ehemalige Schüler, ausfindig machen. Sie hatten außerdem eine Podiumsdiskussion organisiert, konnten das alte Klassenbuch von 1963 auswerten und bekamen Kontakt zu einem englischen Sprachassistenten, der damals an der Schule arbeitete.
"Wir haben bei unseren Zeitzeugen, die Dönitz und die Affäre erlebt hatten, ein großes Bedürfnis festgestellt, ihre Erfahrung mitzuteilen und für sich aufzuarbeiten", sagt Luise Jacobs, die mit ihrem Abiturjahrgang das Projekt bearbeitet hat.
Susanne Falkson hat ihre Examensarbeit selbst über Zeitzeugen im Geschichtsunterricht geschrieben. "Die Zeitzeugen aus der Dönitz-Affäre bildeten ein Gegengewicht zu den Zeitungsartikeln jener Zeit", sagt die 42-Jährige.
Neben dem Ablauf der Ereignisse haben die Schüler intensiv recherchiert, wie Geschichtsunterricht Anfang der 60er-Jahre aussah, sie untersuchten aber auch das politische und gesellschaftliche Klima jener Zeit. "Die Schüler haben nicht überall offene Türen eingerannt", sagt Falkson, die mehrere anonyme Mails erhalten hat. "Denen hat nicht gefallen, dass wir an dem Thema gerührt haben." Uwe Barschel sei bei seinen Mitschülern nicht sonderlich beliebt gewesen, wird dessen Bruder Eike in dem Dossier zitiert. Eine Geschichte wurde in dem Zusammenhang von einem Zeitzeugen auch wieder erzählt: Seinen Mitkonkurrenten um das Amt des Schülersprechers am Gymnasium sowie um den Bezirksvorsitz bei der Jungen Union im Kreisverband Lauenburg habe Barschel ausgebootet.
Ein Klassenkamerad hatte sich in einem Möllner Hotel mit ihm das Zimmer geteilt. Am nächsten Morgen habe Barschel behauptet, der andere habe sich ihm unsittlich genähert. Homosexualität stand noch unter Strafe. Barschels Behauptung führte zu einem Ehrengerichtsverfahren der Jungen Union, der Gegenkandidat wurde ausgeschlossen. Und die Karriere von Uwe Barschel begann.
Offenbar hatte Barschels erster politischer Ziehvater, sein Geschichtslehrer Heinrich Kock, dafür gesorgt, dass Dönitz von Barschel an das Städtische Gymnasium eingeladen wurde. Kock und Dönitz hatten sich auf einer Veranstaltung des Heimkehrerverbandes im Dezember 1962 persönlich kennengelernt. Als der Hitler-Nachfolger Dönitz schließlich am 22. Januar 1963 nach Geesthacht in die Schule kam, gab es keinerlei kritische Fragen. Nur ein Lehrer hat die Veranstaltung aus Protest verlassen.
Als der Redakteur der "Bergedorfer Zeitung" danach von "Geschichtsunterricht in höchster Vollendung" schreibt, lassen die kritischen Reaktionen anderer Medien aber nicht lange auf sich warten. Der Dönitz-Auftritt schlägt nicht nur bundesweit Wellen, sondern auch in Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien. Den Schülern am Gymnasium wird daraufhin Redeverbot erteilt; wer den Medien Auskunft gibt, könne von der Schule verwiesen werden. Es hagelt Häme für das Provinzstädtchen Geesthacht. Der damalige Schulleiter Georg Rühsen kann mit der Situation nicht umgehen und verschwindet. Ende April gibt die Elbe seine Leiche frei. Der Jahrgang von Barschel macht im Frühjahr 1964 Abitur.
"Wir gaben Dönitz die Chance, sich als Herr Saubermann darzustellen", sagt die Zeitzeugin Marianne Geist, damals Schülerin am Städtischen Gymnasium, die später selbst Geschichtslehrerin wurde. Sie spricht von ihrem Jahrgang als einer "traumatisierten Generation". Die Alten hätten versucht, "alles zu deckeln, nicht nur mit einem Teppich, sondern möglichst mit Beton".
Der spätere gesellschaftliche Umbruch war noch weit weg. "Es war ein ganz anderer Geschichtsunterricht", sagt Nadine Smolka, 19, aus der Preisträgerklasse über das Projekt, das sie und ihre Mitschüler monatelang beschäftigt hat. Und Luise Jacobs bekräftigt: "Es hat sich gelohnt. Wir haben das Gefühl, dass wir einigen Leuten geholfen haben. Es hat zu dem Thema doch noch einigen Redebedarf gegeben."
Geesthachts Bürgermeister Volker Manow ist stolz auf die Preisträger. "Diese Affäre hatte ja nicht unbedingt etwas mit Geesthacht zu tun. So etwas hätte es damals überall geben können." Auch Jens-Peter Pankow, Leiter des Otto-Hahn-Gymnasiums, spricht von einer "großartigen Leistung, die von Schülern und Lehrkraft erbracht worden ist. Sie haben das schwierige Thema in sehr behutsamer Weise und sehr facettenreich aufgearbeitet." Der Vorgang habe noch heute Signalwirkung, "weil bestimmte Namen eine Rolle spielen. Aber es ist ihnen gelungen, die Geschichte so darzustellen, dass die Wertung dem Lesern überlassen wird."
Susanne Falkson hat bereits zum zweiten Mal mit einer ihrer Klassen den ersten Preis beim Geschichtswettbewerb geholt und davor einen zweiten Platz. Die Konkurrenz sollte sich also für 2012 wappnen, denn: "Mir fallen die Themen für diesen Wettbewerb immer so vor die Füße", sagt die engagierte Lehrerin und lacht.
Das 60-seitige Dossier "Die Dönitz-Affäre. Der Großadmiral und die kleine Stadt" ist auf der Homepage des Otto-Hahn-Gymnasiums nachzulesen unter: www.ohg.sh.schule.de