Adendorf/Atlantikküste. Sechs Monate Frankreich, dann Skandinavien. Was aus den Plänen der Lüneburger Familie geworden ist und wie es ihr heute geht.
Es ist ein Jahr her, da hatte Familie Thibault einen Plan. Ihr Haus in Adendorf verkauften sie, stattdessen schafften sie sich einen VW Bus an. Einige wenige Dinge stellten sie bei ihren Eltern unter. Alles andere, was nicht in das Auto passte, verkauften oder verschenkten sie. Nach Frankreich sollte es gehen, für sechs Monate. Anschließend sollte für Mutter Caroline (37 Jahre), Vater Jérémy (35) sowie die drei Kinder Mathéo (7), Tilda (5) und Élio (2) eine Reise mit Open end folgen.
Fast ein Jahr ist es her, dass die Familie Anfang Januar 2023 ein möbliertes Haus in Lorient, einem Küstenstädtchen in der Bretagne, bezog. Für sechs Monate hatten sie es gemietet. Der Kleinste, Élio, blieb zu Hause, weil sich so schnell kein Krippenplatz für ihn finden ließ. Die beiden älteren Kinder besuchten eine École. Mutter Caroline, ursprünglich Sozialpädagogin und Bildungswissenschaftlerin, baute ihre Selbstständigkeit als systemische Coachin auf. Vater Jérémy, Ingenieur, suchte nach einer Anstellung in der Nähe.
Im Januar 2023 bezog die Familie ein Haus in einem Küstenstädtchen der Bretagne
„Wir wollten das erste Mal im Leben tun, was wir wirklich wollten: selbstbestimmt arbeiten, die Familienarbeit gleichwertig aufteilen“, erzählte Caroline Thibault. „Und wir wollten ans Meer.“
Frankreich wählte das Paar deshalb, weil Caroline schon seit ihrer Kindheit ein Fan des Landes ist. Weil Jérémy Franzose ist – sie hatten sich als deutsch-französisches Sprachtandem kennengelernt, als er für einen Airbus-Zulieferer in Finkenwerder arbeitete. Und weil die Kinder schon in Adendorf zweisprachig aufgewachsen sind.
Schon früh hatten Caroline und Jérémy die ersten Etappen der weiteren Reise festgelegt: Nach den ersten sechs Monaten in Frankreich sollte es Anfang Juli 2023 nach Dänemark gehen, anschließend weiter nach Norwegen. Mit VW Bus und Zelt. Und danach? Das wollten sie dann sehen!
Mutter Caroline: „Es klang alles so romantisch, als wir uns das überlegten“
„Es klang alles so romantisch, als wir uns das überlegten“, sagt die 37-Jährige ein Jahr später. „Doch je näher das Datum rückte, desto mehr wurde uns klar: Das wird total unentspannt. Wir fühlten uns komplett überfordert.“
Denn: Sohn Mathi braucht aufgrund von ADHS immer wieder seinen eigenen Raum und sehr viel Struktur. Tochter Tilda liebte die neue Schule und wollte viel lieber weiter dorthin als auf Reisen gehen. Mutter Caroline fragte sich, wie sie auf Dauerreise ihre Selbstständigkeit auf solide Füße stellen sollte.
Sie spezialisierte sich auf Persönlichkeitsanalyse und Identitätscoaching für neurodivergente Menschen, bei denen das Gehirn Reize aus der Umwelt anders verarbeitet als bei neurotypischen Menschen. Und Vater Jérémy hatte gerade einen Job gefunden, der ihm gefiel: als externer Prüfer für Arbeitsprozesse bei Airbus.
Erkenntnis nach einigen Monaten: „Eine Reise ohne Ende ist nicht unser Ding“
Und da war sie dann, die große Frage, ob das alles so richtig sei, was sie sich überlegt hatten. Und sie merkten: Sie hatten sich das Falsche vorgenommen. „Wir stellten uns die Reise ganz konkret vor: wie wir zu fünft mit Bulli, Wohnwagen und Zelt unterwegs sind. Wie wir arbeiten und die Kinder unterrichten sollen, immer zu fünft auf so engem Raum. Und wir stellten fest: Eine Reise ohne Ende ist nicht unser Ding.“
Und dass, wenn sie zurückkämen, nichts mehr so wäre, wie es gewesen war. Nicht einmal sie selbst. Dass sie sich womöglich fremd fühlen würden. Sie hatten ja kein Zuhause mehr. Noch nicht einmal eine Mietbox voller eingelagerter Möbel.
- Verrückt nach Meer: TV-Kreuzfahrtschiff muss Reise nach Hamburg abbrechen
- Immer mehr deutsche Auswanderer ziehen in kleine Dörfer – wie sie ankommen
- Pferde statt Schule: Hamburgerin lebt in den USA ihren amerikanischen Traum
Also blieben sie den Sommer über in Frankreich, in einem Haus zur Miete. „Es war der Sommer unseres Lebens“, erzählt Caroline Thibault. „Wir haben unendlich viele Tage am Strand und im Atlantik verbracht. Unser Lebensgefühl hat sich grundlegend verändert.“
Plötzlich begann die Talfahrt im Kopf und stellte alle Planungen infrage
Und das wollen sie nicht mehr hergeben. Auch wenn sich im November die Möglichkeit für Jérémy ergab, in Hamburg zu arbeiten. Für einige Momente fragte sich das Paar das erste Mal, ob sie zurückkehren sollten. Plötzlich kam die Talfahrt im Kopf und stellte alles infrage. Genauso plötzlich erinnerten sie sich aber daran, warum sie gegangen waren. Und dass sie vermutlich nach ein paar Jahren wieder am selben Punkt ankommen würden.
Kurz danach bekam Jérémy sogar ein Jobangebot, das nah dran ist am „Jobangebot des Lebens“: eine Stelle bei Airbus in Rochefort-sur-Mer. Damit war alles klar. Kurz vor Weihnachten zogen sie um, in ein unmöbliertes Haus. Nun müssen sie fast alles, was sie vor einem Jahr weggegeben hatten, wieder besorgen.
Die vier Phasen der Auswanderung: Euphorie, Realität, Krise und Ankommen
„Im Rückblick hätten wir mehr Dinge zwischenlagern sollen“, sagt die Auswanderin mit ein wenig Zähneknirschen. „Aber damals fanden wir keine Lagerkapazitäten, die nichts kosten. Außerdem wussten wir ja nicht, für wie lange.“
Was sie im ersten Jahr nach Adendorf gelernt haben? Dass die bekannten Phasen der Auswanderung tatsächlich stimmen: von der euphorischen ersten Phase über die realistische zweite in die krisengeschüttelte dritte. Nun warten sie auf die vierte: die des Ankommens.