Landkreis Harburg. Der Landkreis Harburg hat sich bei Automatensprengungen zu Niedersachsens Brennpunkt entwickelt. Die örtliche Polizei ist machtlos.

Es knallt, dann regnet es Scheine aus den zerstörten Geldautomaten. Die Täter flüchten nach der Explosion per Bleifuß mit der Beute über die Autobahn. Immer wieder ist der Landkreis Harburg Ziel solcher Angriffe.

Zuletzt sprengten unbekannte Täter ein Ausgabegerät in der Winsener Innenstadt in die Luft, zuvor eine Sparkassen-Filiale in Brackel Mitte Januar. Und die Statistik zeigt: Der Landkreis Harburg hat sich im Jahr 2022 zum zentralen Brennpunkt dieser Angriffe entwickelt. Besonders betroffen ist die Gemeinde Seevetal.

Automatensprengungen: Landkreis Harburg ist niedersächsischer Spitzenreiter

Das Abendblatt hat die Daten des Landeskriminalamtes Niedersachsen unter die Lupe genommen und herausgefunden: Sieben Automatensprengungen in 2022 fielen ins Kreisgebiet. Der Vergleich aller niedersächsischen Landkreise und kreisfreien Städten ergibt: Gemeinsam mit dem Landkreis Peine bildet Harburg das beliebteste Ziel im Bundesland. Das zeigt diese Karte deutlich:

In Niedersachsen erreichte die Zahl der Fälle im Jahr 2022 den Rekordwert von 68 gesprengten Automaten. Erfasst werden sie seit 2015 – die Statistik weist für das Auftaktjahr 30 Taten aus. Auch deutschlandweit wird die Zahl für 2022 laut Bundeskriminalamt (BKA) einen neuen Höchststand erreichen.

Eine abschließende Zahl liege noch nicht vor. Bisher war 2020 mit 414 Fällen das Rekordjahr. Einem „Welt“-Bericht zufolge soll es 450 Fälle in 2022 gegebenen haben. „Teilweise haben sich im Jahr 2022 bis zu fünf Geldautomatensprengungen in einer Nacht im gesamten Bundesgebiet ereignet“, teilt das BKA dem Abendblatt mit.

Im laufenden Jahr setzt sich die Serie fort. So wurden in Niedersachsen allein im Januar acht weitere Geldautomaten gesprengt, wie das Landeskriminalamt (LKA) mitteilt. Darunter der hiesige Fall in Brackel an der A 7 am 14. Januar.

Vier Sprengungen: Seevetal ist Hotspot im Kreis Harburg und in Niedersachsen

Der Blick auf die Fälle im Kreis zeigt, dass die Gemeinde Seevetal mit vier Sprengungen besonders betroffen war. Darunter zwei Geldautomaten in Hittfeld. Dort hatten die Täter Automaten in einer Volksbank-Filiale (5. Juli) und im Edeka-Markt Meyer (14. Oktober) mit Sprengstoff in die Luft gejagt.

Außerdem waren zwei Sparkassen-Filialen in Seevetal-Ramelsoh (8. April) und in Seevetal-Fleestedt (29. April) Ziel der Angriffe. Alle Ziele seit 2022 sind in der interaktiven Karte verzeichnet. Weitere Infos und Bilder gibt es per Klick:

Vier Taten – das ist auch im Landesvergleich eine hohe Konzentration auf Ortsebene. Nur in Salzgitter gab es mit sechs Angriffen mehr Fälle als in Seevetal.

Im Landkreis Harburg hatten es die „Panzerknacker“ außerdem auf einen Automaten im Eingangsbereich des Wildparks Lüneburger Heide in Hanstedt (25. Juni) und in Egestorf (19. Oktober) und in Buchholz (22. Dezember) abgesehen.

Warum es die Täter im vergangenen Jahr besonders auf Ziele im Landkreis Harburg abgesehen haben, lässt sich nicht abschließend klären. Im Vorjahr 2021 ist ein Fall in Seevetal-Ramelsloh verzeichnet.

Der Famila-Markt in Buchholz. In der Nacht zu Donnerstag schlugen dort die Täter zu.
Der Famila-Markt in Buchholz. In der Nacht zu Donnerstag schlugen dort die Täter zu. © Christoph Leimig

Was die Ermittler zu den „Panzerknackern“ sagen

„Die Wahl der Tatorte ist uns nicht immer erklärlich“, heißt es aus der Staatsanwaltschaft Osnabrück. Dort wurde im Dezember 2022 eine zentrale Ermittlungseinheit geschaffen, um den länderübergreifend tätigen Automatensprengern auf die Spur zu kommen. Grundsätzlich scheine die Nähe zur Autobahn ein Aspekt zu sein.

Weitere Ermittlungsergebnisse will die Staatsanwaltschaft nicht an die Öffentlichkeit geben, um im Verborgenen gegen die Täter vorzugehen. „Problem der Ermittlungen ist, dass es auf Täterseite eine große Gruppe gibt, die in wechselnder Zusammensetzung tätig wird“, sagt Oberstaatsanwalt Alexander Retemeyer.

Landkreis Harburg: Tatorte liegen entlang der A 7 und A 1

Auch die örtliche Polizei weiß, wie beliebt der Kreis Harburg bei den Tätern ist, und steht im Austausch mit Osnabrück. Stefan Budde von der Zentralen Kriminalinspektion (ZKI) Lüneburg sagt: „Die Täter bewegen sich entlang der Hauptverkehrsachsen.“ Der Blick auf die Landkreis-Karte bestätigt: Alle Tatorte befinden sich entlang der Autobahnen A 7 und A 1 und liegen in unmittelbarer Autobahnnähe.

Dazu passt, dass der Brennpunkt Seevetal im Kreuzungsbereich der Autobahnen liegt. Ein weiterer Faktor laut Budde: Wo nachts wenige Zeugen zu erwarten seien, schlügen die Täter eher zu. Es handele sich um organisierte Gruppen, die die Ziele vermutlich auskundschaften.

Warum in den anliegenden Landkreisen Lüneburg, Stade, Rotenburg und im Heidekreise im Jahr 2022 keine einzige Sprengung vorgenommen wurde (siehe Karte), bleibt unklar. Mit zwei Fällen im Januar 2023 scheint der Heidekreis mit dem Jahreswechsel nun aber wieder ins Visier der Täter geraten zu sein.

Die Polizei vor Ort steht den Tätern machtlos gegenüber

Dem rücksichtlosen Vorgehen steht die örtliche Polizei nach eigener Aussage machtlos gegenüber. „Uns sind die Hände gebunden“, sagt Stefan Budde. Die Vorgehensweise ist bekannt: Die Täter kommen in der Nacht und verschaffen sich gegebenenfalls Zugang zu den Geldautomaten. Mit Sprengstoff jagen sie die Ausgabegeräte in die Luft, erbeuten potenziell mehrere Tausend Euro und flüchten in hochmotorisierten Autos.

Die Polizei hat den Bereich um den gesprengten Kassenautomaten einer Volksbank in Seevetal abgesperrt (Archiv 2021)
Die Polizei hat den Bereich um den gesprengten Kassenautomaten einer Volksbank in Seevetal abgesperrt (Archiv 2021) © Joto

Während früher vor allem Gas für die Sprengungen benutzt wurde, ist inzwischen eine Detonation mit Festsprengstoff üblich. Nach Angaben des LKA ist das aufgrund der hohen Sprengkraft weitaus gefährlicher für die Bevölkerung. Die Explosion in der Sparkassen-Filiale in Brackel im Januar war so heftig, dass die Druckwelle auch das Nachbarhaus erschütterte und sich Glasscherben und Trümmer im Umfeld von 30 Metern verteilten.

Die finanziellen Schäden an den Gebäuden seien teilweise höher als die Beute, sagt Stefan Budde. Wie unerschrocken von herannahendem Blaulicht und Sirenen die Täter agieren, zeigen Handy- und Überwachungsvideos.

Organisierte Täter kommen vermutlich aus den Niederlanden

Die Verfolgung sei „für die Einsatzkräfte sehr gefährlich“, sagt Stefan Budde. Die Flüchtigen bei rund 250 km/h auf der Straße zu verfolgen oder gar zu stoppen, sei ohne Gefahr für Leib und Leben kaum möglich. „Wir gehen davon aus, dass die Täter aus den Niederlanden stammen“, erläutert Stefan Budde.

Die Verteilung der Fälle in Niedersachsen (siehe Karte) zeigt ein deutlichen Muster: Jeweils entlang der A 7 und A 1 in Richtung Süden/Südwesten, entlang der A 2 bei Hannover in Richtung Westen und entlang der A 28 über Bremen und Oldenburg treten erhöhte Fallzahlen auf. Also in Richtung der deutsch-niederländischen Grenze.

Automatensprengung: Justizministerin fordert mehr Vorkehrungen der Banken

Kürzlich forderte Niedersachsens Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) die Geldinstitute auf, „sich ein Beispiel“ an den Niederlanden zu nehmen. Dort werden Geldscheine bei Automatensprengungen verklebt und somit unbrauchbar gemacht. Die Gefährdungslage sei nicht länger hinnehmbar. Sollten die Sparkassen und Banken zeitnah nicht ausreichend handeln, müssten „sie durch gesetzgeberische Maßnahmen zum Handeln gezwungen werden“.

Sparkassen und Genossenschaftsbanken verweisen wiederum auf vorgenommene Vorkehrungen wie Vernebelungsanlagen, nächtliche Schließungen und eingefärbte Geldkassetten.