Harburg/Lüneburg. Engagement ist ungebrochen hoch. Erste Flüchtlinge treffen ein, während Schüler ein Zeichen setzen und Helfer Spenden sortieren
Der kleine Junge zieht einen Schoko-Lolli aus seiner Jackentasche und hält ihn Helga Novotny vor’s Gesicht. Den, sagt er, wolle er spenden für die Kinder in der Ukraine, weil da doch jetzt Krieg sei. Schnell läuft zu seiner Mutter zurück, die im Auto auf ihn wartet.
„Das ist rührend, wie sich so kleine Kinder Gedanken über diesen furchtbaren Krieg machen“, sagt Helga Novotny. Dann dreht sie sich um und beschriftet die nächste Spendentüte mit warmer Kinderkleidung. Es gibt viel zu tun.
"Spendenbereitschaft der Menschen ist unbeschreiblich"
An diesem Freitag ist sehr viel los auf dem Hof der Lüneburger Stiftung Hof Schlüter. Aus der ganzen Region kommen Menschen. Sie haben von dem Spendenaufruf für die Kriegsopfer in der Ukraine gelesen – auch das Abendblatt berichtet. Die Autos, die an diesem Tag auf den Hof in Hagen rollen, sind vollgepackt mit Kleidung, Nahrungsmitteln und warmen Wolldecken. Spendenberge türmen sich vor Helga Novotny und ihren Helfern auf. Und die Berge wachsen zusehends. „Die Spendenbereitschaft der Menschen ist unbeschreiblich, langsam laufen wir total über. Ich weiß nicht mehr, wo wir alle die Sachen lagern sollen, bis der Lkw kommt“, sagt sie.
Helga Novotny ist 81 Jahre alt und arbeitet ohne Pause. Das Wissen um die Menschen in der Ukraine, die jetzt ohne Nahrungsmittel, Medikamente, teilweise ohne Strom und Heizung in ihren Wohnungen oder Kellern sitzen und Angst vor den Raketen haben, dieses Wissen lasse sie weiter machen. Sie weiß, was Krieg, Hunger und Angst bedeuten. Auch das ist Antrieb für sie, stundenlang Spenden für die humanitäre Hilfe in der Ukraine zu sortieren. „Wenn ich in den Nachrichten die Sirenen aus dem Kriegsgebiet höre, dieses Geräusch geht mir durch Mark und Bein“, sagt sie. Helga Novotny ist 1941 in Hinterpommern geboren. Sie ist vier Jahre alt, ihr Vater im Krieg, als sie mit der Mutter und drei Geschwistern auf einem Leiterwagen Richtung Westen flieht. So wie heute es andere Frauen mit Kindern tun müssen.
1997 wird die Stiftung Hof Schlüter gegründet. Gemeinsam mit ihrem Mann Peter baut Helga Novotny die Stiftung auf. In der Hauptsache fördert die Stiftung soziale Projekte. 2002 fliegt die Helferin zum ersten Mal in die Ukraine. „Es war für mich so furchtbar, das Elend dort zu sehen. Mir war sofort klar, dass wir uns hier engagieren mussten. Uns in Deutschland geht es so gut, dass wir anderen helfen müssen“, erinnert sie sich.
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In den folgenden Jahren besuchen die Novotnys regelmäßig die Stadt Bila Zerkwa in der Ukraine, besuchen Krankenhäuser, Kinderheime und Familien in Not. Viele Lkw mit Hilfsgütern schickt die Stiftung jetzt in die Stadt. Die Spenden aus Deutschland werden in der großen Halle auf dem Stiftungsgelände sortiert und bis zum Transport gelagert. Helga Novotny weiß, welches Krankenhaus welche medizinischen Geräte oder Bettwäsche braucht, welche Spielsachen an das Kinderheim „Slagoda“ geliefert werden sollen. Inzwischen leistet die Lüneburger Stiftung seit 20 Jahren humanitäre Hilfe in Bila Zerkwa, 80 Kilometer südlich von Kiew. Jetzt liegen große Teile der 220.000 Einwohner Stadt in Schutt und Asche, bombardiert von Putins Truppen. Die Freiwilligen versuchen derzeit, die Kinder aus dem Heim nach Polen zu evakuieren. Von dort sollen sie nach Lüneburg geholt werden.
An diesem Abend kommt Helga Novotny „ein bisschen kaputt“ nach Hause – nach fast acht Stunden Arbeit. In der Nacht fährt der Lkw auf den Hof der Stiftung, um mit Hilfsgütern beladen zu werden. Der ukrainische Fahrer will am Dienstagmorgen Richtung Bila Zerkwa abfahren.
Flüchtlinge aus der Ukraine treffen mit Helfern aus Harburg ein
Während von Lüneburg Transporter auf den Weg gehen, kommen andere wieder – und bringen Flüchtlinge gleich mit. So wie am Sonntagnachmittag im Hamburger Süden, wo ein Konvoi aus fünf Fahrzeugen eintraf. Vier aufregende Tage lagen da hinter den Fahrerinnen und Fahrern der Rettungshundestaffel aus Harburg und Hamburg. Zuvor haben sie Hilfsmaterial an die ukrainische Grenze zu Ungarn gebracht. In der Grenzstadt Napkor bot sich den Helferinnen ein schlimmes Bild. „In einer Turnhalle waren 500 Menschen zusammengepfercht“, wie Einsatzleiter Stefan Ossowski, der den Hilfstransport begleitete berichtet. „Etwa 30 Menschen mussten ohne Unterkunft am Bahnhof schlafen. Viele waren erschöpft und traumatisiert.“
Insgesamt 15 Frauen und Kinder nahmen die Helfer aus Harburg in ihren Fahrzeugen mit. Zehn Geflüchtete, sechs Frauen und vier Kinder zwischen 3 und 13 Jahren, kamen zunächst nach Hamburg. Hier wurden sie bereits von Gastfamilien erwartet, diese nehmen die Flüchtlinge erst einmal auf, bis sie eine eigene Bleibe gefunden haben oder die Weiterreise organisiert ist.
Emotionale Szenen spielten sich auf dem Übungsplatz der Hundestaffel ab. Die Angst vor dem Krieg löste sich allmählich und wich der Erleichterung, erst einmal in Sicherheit zu sein. Viele Sorgen sich um ihre Familien, die weiter in der Ukraine dem Schrecken des Krieges ausgesetzt sind. Auch die Schwiegermutter eines Teammitgliedes der Rettungshundestaffel konnte gerettet werden. Als diese ihre Tochter mit neugeborenem Enkel in den Arm schließen konnte, flossen Tränen der Erleichterung. Sie wird erstmal bei ihrer Tochter in Hamburg unterkommen. Weitere Transporte sind bereits in der Abstimmung.
Auch das Deutsche Rote Kreuz (DRK) Kreisverband Hamburg-Harburg reagiert auf die wachsende Not in der Ukraine sowohl im Land als auch auf der Flucht mit verschiedenen Maßnahmen von Logistik bis zu Beratung und intensiviert die Netzwerkarbeit im Stadtteil: „Wir wissen, wie groß der Wunsch auch in Harburg ist, den betroffenen Menschen zu helfen“, so DRK-Vorstand Harald Halpick. „Als Harburger DRK agieren wir gerade an verschiedenen Stellen. Zunächst haben wir unsere Bereitschaft erklärt, die Stadt beim Aufbau von Unterkünften und der Aufnahme von Geflüchteten mit unserer Erfahrung zu unterstützen. Wir können kurzfristig geflüchtete Menschen versorgen und betreuen.“
DRK warnt vor unkoordinierten Hilfstransporten
Außerdem weitet das DRK Harburg etablierte Angebote wie die Migrationsberatung und das Projekt „Alltagsbegleiter“ aus. Auch Ukrainerinnen und Ukrainer, die Übersetzungshilfe angeboten haben, gehören dazu. Für Sascha Thon, Projektleiter des DRK-Willkommensbüros Süderelbe, geht es jetzt überwiegend um Vernetzungsarbeit. „Viele kontaktieren uns, wollen ehrenamtlich helfen. Wir organisieren uns mit Initiativen wie dem Norddeutsch-Ukrainischen Hilfsstab, geben Informationen weiter und beraten direkt, damit das Ankommen gelingen kann.“
Außerdem hat das DRK Harburg die Transportkapazitäten ausgebaut und stellt Fahrzeuge sowie ehrenamtliche Fahrer, um beispielsweise Verletzte vom Flughafen transportieren zu können. Ein erster DRK-Transport mit 88 Tonnen Hilfsgütern ist am Mittwoch von Berlin Richtung Polen gestartet. Organisiert wird diese Auslandshilfe vom Generalsekretariat des DRK in der Hauptstadt. Unkoordinierte Hilfskonvois würden die humanitäre Infrastruktur in der Ukraine und den Nachbarländern nur unnötig belasten oder sogar blockieren, heißt es in der DRK-Mitteilung. Andererseits befinden sich Millionen Menschen auf der Flucht. 88 Tonnen Hilfsgüter sind zirka vier Lkw-Ladungen.
Helfen, irgendwie ein Zeichen setzen für den Frieden: Das haben Tausende Teilnehmer von Demonstrationen in verschiedenen Städten in den vergangenen Tagen getan. In Lüneburg versammelten sich bei einer Kundgebung, zu dem das Friedensbündnis Lüneburg aufgerufen hatten, laut Angaben der Organisatoren 800 Teilnehmer am Sonnabendnachmittag auf dem Marktplatz. Es sprach unter anderem eine Vertreterin von Fridays for Future. Es war die dritte Friedensdemo innerhalb weniger Tage in der Stadt.
In der Gemeinde Seevetal organisierten Schüler und Lehrer eine Solidaritätsaktion für die Ukraine. Die Schüler des Gymnasiums Meckelfeld formten vom vergangenen Freitag das Peace-Zeihen für Frieden. Die Big-Band spielte bei der Kundgebung die ukrainische Nationalhymne.