Landkreis Harburg. Erst der Lockdown, jetzt die Rückkehr in den Alltag: Psychiater, Jugendamt und die neue DKSB-Vorsitzende sehen Überforderung

Sie ist keine, die lange redet. Stattdessen packt sie an und setzt sich ein für ihre Sache. Anne Buhr weiß, dass jeder Tag, an dem man etwas bewegen kann, ein wichtiger ist – gerade, wenn es um junge Menschen geht. Für Kinder und Jugendliche hat sich die frisch gewählte Vorsitzende des Deutschen Kinderschutzbundes im Landkreis Harburg (DKSB) Zeit ihres Lebens engagiert und wird es in ihrer neuen Funktion auch weiterhin tun.

Die ehemalige Direktorin der Stadtteilschule am Hafen hat sich für ihren Start eine denkbar schwierige Zeit ausgesucht. Die Corona-Pandemie geht in das dritte Jahr. Corona-Regeln, Homeschooling, Stress belastet viele Kinder und Jugendliche, so das Ergebnis des aktuellen Präventionsradars 2021 der DAK Gesundheit. Jedes dritte Schulkind fühlt sich nicht ausreichend vor dem Virus geschützt. Mehr als die Hälfte aller Kinder wurde unglücklicher. Die Lebenszufriedenheit der Schüler sank im Durchschnitt um 21 Prozent. Gleichzeitig nahmen emotionale Probleme stark zu.

"Viele Kinder und Jugendliche sind überfordert“

Große Probleme bereitet den Kindern und Jugendlichen auch die Rückkehr in den Alltag. „Die Schule hat wieder begonnen, der Präsenzunterricht ist wieder da. Konzentration und Leistungsdruck kehren zurück. Viele Kinder und Jugendliche sind überfordert“, sagt Meike Gresch, Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Asklepios Klinikums Harburg.

„Gerade diejenigen, die im Lockdown unauffällig gewesen sind, die ‚Leiseren‘ klagen über Ängste, Bauchschmerzen, Traurigkeit und depressive Verstimmungen.“ Betroffen seien vor allem Kinder und Jugendliche in „Schwellensituationen“, zum Beispiel beim Wechsel von der Kita in die Schule oder von der Grund- und die weiterführende Schule, so Gresch weiter. Also in Situationen, wo es darum gehe, Identität und Selbstwert zu entwickeln. „Ihnen fehlt häufig das Handwerkszeug, um in neuen Situationen zurechtzukommen.“

Problematisch seien zudem fehlende Tagesstrukturen sowie eine Destabilisierung des Alltags in vielen Familien. „Wir beobachten häufiger eine Rollenumkehr in den Familien. Die Kinder übernehmen die Verantwortung, sie sorgen die um die Eltern.“ Das führe zu einer Überforderung. „Gerade die Jüngeren zwischen fünf und sieben Jahren spüren, dass die Eltern verunsichert sind. Für die Kleinen ist Corona jedoch ein diffuses Thema und nicht greifbar“, so die Chefärztin. Das mache Angst.

Jugendhilfe im Landkreis Harburg setzt auf Video- und Telefonkonferenzen

Das Jugendamt des Landkreises Harburg als Teil der Jugendhilfe sieht ebenfalls eine große Belastung für die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie deren Familien durch die Pandemie. Die Jugendhilfe hat sich seit Frühjahr 2020 verschiedentlich darauf eingestellt. „Das Ziel war immer, den notwendigen Kontakt zu den Familien und den jungen Menschen aufrecht zu erhalten“, so Katrin Richter-Fuss, Leiterin der Abteilung Jugend und Familie in der Kreisverwaltung. So wurden viele Video- und Telefonkonferenzen geführt und Gespräche bei Spaziergängen geführt.

Doch der direkte Kontakt unterblieb zusehends. Das gilt auch für die jungen Menschen untereinander: So wichtige Entwicklungsaufgaben wie das zwanglose Treffen mit Freunden sind nun seit vielen Monaten nur eingeschränkt möglich. „Die Jugendzentren beispielsweise haben alles dafür getan, im Rahmen ihrer jeweiligen Hygienekonzepte und räumlichen Möglichkeiten jungen Menschen Räume und Kontaktmöglichkeiten zu eröffnen“, so Kai Schepers, der als Kreisjugendpfleger der Abteilung Jugend und Familie die Arbeit in den Jugendzentren begleitet.

Der Deutschen Kinderschutzbund im Landkreis Harburg sieht die Folgen der Pandemie mit Sorge. „Die Corona-Situation hat die Familien an ihre Grenzen gebracht“, sagt Anne Buhr. „Wir haben eine stetig steigende Nachfrage nach Beratung.“ So wenden sich nicht mehr nur die Eltern, sondern auch immer mehr junge Menschen mit ihren Sorgen an den Kinderschutzbund. Um diese zu begleiten, sollen künftig auch Gruppenangebote entwickelt werden, die sich unmittelbar an Kinder und Jugendlichen wenden.

In jedem Kind liegt ein Schatz, der geborgen werden sollte

Ein Ansatz, den Anne Buhr auch in ihrer Tätigkeit als Lehrerin und spätere Schulleiterin verfolgt hat. Die promovierte Erziehungswissenschaftlerin hat sich stets an die Schüler und Schülerinnen direkt gewendet. Weil sie an die jungen Menschen glaubt, sie davon überzeugt ist, dass in fast jedem Kind ein Schatz liegt, der geborgen werden sollte. „Natürlich ist nicht alles schön, es gibt auch gewaltbereite Kinder und Jugendliche, an die nicht ranzukommen ist“, sagt sie. „Ich bin keine Sozialromantikerin. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Verhaltensauffälligen nur eine kleine Minderheit ausmachen und wir die Kraft in die vielen anderen stecken sollten.“

Also engagiert sie sich für die Heranwachsenden, kaum dass sie selbst die Schule verlassen hat. Nach dem Abitur beschließt sie Lehramt zu studieren. Ihr Ziel ist die Arbeit an einer Haupt- und Realschule. „Ich wollte für Kinder und Jugendliche etwas tun, die es nicht so gut hatten“, sagt sie. Ihre ersten Erfahrungen sammelt sie im Schulzentrum Hemelingen, da ist sie 22 Jahre alt. Das Gros der Schülerschaft kommt aus schwierigen Verhältnissen in denen Armut, Gewalt und Prostitution den Alltag bestimmen. Sie vermittelt ihren Zöglingen, dass sie an sie glaubt, macht anspruchsvollen Unterricht und zeigt ihnen, dass da jemand vor ihnen steht, der sich für sie einsetzt.

1979 wird ihre erste Tochter geboren, fünf Jahre später folgt die zweite. Zeitgleich promoviert Anne Buhr an der Universität Münster. Ihren Wohnsitz hat sie inzwischen nach Buchholz verlagert. Von dort pendelt sie täglich in die Hamburger Neustadt an die Rudolf-Ross-Gesamtschule, heute Stadtteilschule am Hafen. 1993 übernimmt sie die Leitung der Schule, die schon damals einen hohen Migrationsanteil in der Schülerschaft hat.

Sprache ist der Schlüssel zum Verständnis und zur Entwicklung

Gemeinsam mit den Kollegen gründet sie unter dem Dach der Schule eine Deutsch-Portugiesische- und eine Deutsch-Türkische-Schule, um die Schüler in ihrer Muttersprache ansprechen zu können. „Es war faszinierend, zu erleben, wie die Kinder lernen wollten“, sagt sie. „Der Schlüssel zum Verständnis und zur Entwicklung liegt in der Sprache.“

Auch nach ihrer Pensionierung setzt sie sich weiter für Kinder und Jugendliche ein, übernimmt 2018 sie die Rolle der Schatzmeisterin beim Kinderschutzbund. Künftig will sie dafür sorgen, dass das Angebot weiter ausgebaut wird und möglichst viele Betroffene erreicht werden. „Wendet euch an uns, wenn ihr etwas beobachtet“, lautet daher ihr Appell an die Öffentlichkeit. „Bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdungen gilt Hinschauen statt Wegschauen.“