Lüneburg. Merle Preuß und Lisa Michaelis haben Unverpackt-Laden „Neuer Speicher“ in Lüneburg eröffnet. Eine Existenzgründung im Corona-Jahr.
Getreide, Nüsse und Müsli in Schüttsilos, Süßigkeiten und getrocknete Früchte in bauchigen Gläsern, Hafermilch in Pfandflaschen, Teller voller Seifen und Tonnen voller Waschmittel – im „Neuen Speicher“ nahe dem Lüneburger Bahnhof gibt es fast alles für den täglichen Bedarf zu kaufen. Das Besondere: Die Produkte – alles bio, das allermeiste vegan – werden ohne Verpackung verkauft, die Kunden füllen sich die gewünschte Menge in mitgebrachte Gefäße selbst ab.
Mit ihrem Unverpackt-Laden haben sich Merle Preuß und Lisa Michaelis ihren Traum von der Selbstständigkeit erfüllt. Ihr Unternehmen ist eins von 9217, die im vergangenen Jahr im Bezirk der Industrie- und Handelskammer (IHK) Lüneburg-Wolfsburg sowie der Handwerkskammer Braunschweig-Lüneburg-Stade gegründet wurden. Als Lebensmittelgeschäft war der „Neue Speicher“ zwar nicht von den Schließungen im Lockdown betroffen, dennoch hat die Pandemie die Pläne der Gründerinnen durcheinander gewirbelt.
In Lüneburg fehlten plastikfreie Angebote bislang
Schon im Sommer 2019 hatten die Freundinnen den Entschluss gefasst, einen Unverpackt-Laden in ihrer Stadt zu eröffnen. Sie sei zuvor noch nie in einem solchen Geschäft gewesen, sagt Merle Preuß. Der 26-Jährigen war aber aufgefallen, wie sehr zum Beispiel Kosmetikprodukte der Umwelt schaden können. Als sie sich weiter mit dem Thema beschäftigte, stellte sie fest: „Man kann sich in Lüneburg bisher nur schlecht plastikfrei versorgen.“
Hinzu kam ihr Wunsch, sich nach einigen Jahren in ihrem gelernten Beruf als Erzieherin mit einem eigenen Unternehmen selbstständig zu machen. Ihre Mitstreiterin war schon lange davon überzeugt, dass ganzheitliches Wohlbefinden auch mit der Ernährung zusammenhängt. „Gute Lebensmittel in schlechten Verpackungen können aber nicht die Lösung sein“, sagt die 62-Jährige. „Hier wollen wir ein Angebot machen.“
Das Duo ließ sich bei der IHK und der Lüneburger Sparkasse beraten und besuchte einen Workshop bei der Gründerin des ersten Unverpackt-Ladens in Deutschland. „Dort waren sehr viele Frauen, etliche zu zweit, die meisten kamen wie wir nicht aus der Branche“, sagt Lisa Michaelis, die Krankenschwester gelernt und Sozialpädagogik studiert hat. „Das hat uns den entscheidenden Anschub gegeben, dass unser Weg funktionieren kann.“
Rund ein halbes Jahr feilte das Team an seinem Businessplan, im Februar 2020 war alles vorbereitet. Was dann mit dem Virus über die Welt kam, hatte niemand kommen sehen. Auch nicht, dass die Renovierung der Geschäftsräume, die zuletzt eine Raucherkneipe beherbergten, so zeitaufwendig werden würde. „Da hat sich Corona deutlich gezeigt. Es war schwierig, Handwerker zu finden. Die Betriebe waren total überlastet, weil alle Menschen plötzlich ihre Wohnungen renovierten“, sagt Lisa Michaelis. „Das war eine harte Zeit.“ Zeitweise dachten die beiden Gründerinnen daran, doch nur einen Marktstand mit unverpackten Waren aufzuziehen.
Doch sie hielten an ihrem großen Vorhaben fest, investierten viel Energie und knapp 100.000 Euro in die Verschönerung der Räume. Die ursprünglich für vergangenen Mai geplante Eröffnung mussten die Neu-Unternehmerinnen mehrmals verschieben. Zum 1. Oktober wollten sie dann endlich starten, auch wenn die Renovierung gerade erst so geschafft und im Laden noch nicht alles perfekt vorbereitet war.
„Das war der schlimmste Tag in meinem Leben. Es war total chaotisch, alles ging schief“, sagt Lisa Michaelis. Heute kann sie darüber lachen, doch den Auftakt ihrer Selbstständigkeit hatte sie sich anders vorgestellt. Die Einzelhandelslaien, wie sie sich selbst bezeichnen, waren über ein bürokratisches Hindernis namens Konformitätserklärung gestolpert. Ohne dieses Papier konnten sie ihre neue Kassenwaage nicht benutzten. Den Eröffnungstag bestritten die Gründerinnen daher mit Hilfe einer normalen Waage und ihrer Handys, um jeden Einkauf der zahlreichen Neukunden korrekt abzurechnen. „Das war ein einziges Rumgerechne“, sagt Merle Preuß und verdreht bei der Erinnerung daran die Augen.
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Am nächsten Tag lag das fehlende Dokument vor – und dann lief es von Tag zu Tag geschmeidiger im neuen Laden. Der ist nun mit viel Holz an den Wänden ausgestattet, einer Sitzbank im Fenster und einem alten Tisch mit Getreidemühle und Flockenquetsche. Der rötliche Fußboden im Eingangsbereich stammt noch aus einer Zeit, als es ganz normal war, Lebensmittel lose zu verkaufen: 1892 eröffnete hier „Feinkost Brinkmann“ und blieb mehr als 100 Jahre am Standort.
Die meisten Kunden starten mit Haferflocken und Nudeln
Mit dem Namen „Neuer Speicher“ erinnern die Inhaberinnen an die Nähe zum Hafen und zur Viscule, Heimat einer erfolgreichen Kaufmannsfamilie seit dem 13. Jahrhundert. Auf der anderen Seite des Bahnhofs liegt zudem das Speicherquartier, eines von mehreren Wohnvierteln, aus denen viele Kunden kommen. „Wir leben von unseren Stammkunden“, sagt Lisa Michaelis. Aber es kommen auch jeden Tag neue Gesichter in den Laden an der Lünertorstraße.
Die meisten starten mit Haferflocken, auch Nudeln, Müsli und Süßigkeiten gehen häufig über den Tresen. „Am Anfang wurden vor allem die Basics gekauft. Jetzt weitet es sich immer weiter aus, auch Gewürze, Tee und Trockenobst sind mittlerweile sehr beliebt“, sagt Merle Preuß. „Unser Ziel ist es, viele Produkte anzubieten, damit möglichst nur ein Einkauf notwendig ist.“ Besonders froh sind die Inhaberinnen, die sich selbst überwiegend vegan beziehungsweise vegetarisch ernähren, dass sie auch Getreidedrinks anbieten können. Die sollten unbedingt zu ihrem Sortiment zählen, doch lange gab es die Milchalternativen nur in Kartons.
Die Lösung entdeckten sie auf einer Messe: Ein bekannter Hersteller stellte dort einen Haferdrink in Pfandflaschen vor, heute gibt es ihn im „Neuen Speicher“ zu kaufen. Auch unverpackter Tofu und palmölfreie und fair gehandelte Nuss-Nougat-Creme ist dort zu haben. Den veganen Käse haben die Inhaberinnen dagegen wieder aus dem Sortiment genommen. Der Versand war mit zu viel Verpackungsmaterial verbunden. Mehl gibt es direkt aus der Getreidemühle und daher nur in Vollkornqualität.
Im sogenannten Non-Food-Bereich greifen die Kunden häufig zu Seifen aller Art, auch Wasch- und Spülmittel werden gern gekauft. Für alles gilt: Der Kunde wählt die Menge, die er braucht. Das könnten auch mal drei einzelne Nüsse sein, sagt Merle Preuß. „Wir können auch kleinste Portionen anbieten, sodass man von allem ein bisschen probieren kann. So muss nichts Übriggebliebenes weggeworfen werden.“
Die Gründerszene:
- Gründer in der Region haben sich von der Corona-Pandemie nicht wesentlich aufhalten lassen. 7162 Unternehmensgründungen zählte die Industrie- und Handelskammer (IHK) Lüneburg Wolfsburg für das Jahr 2020 in ihrem Bezirk. Im Jahr zuvor waren es mit 7089 etwas weniger gewesen.
- Das Gebiet der IHK umfasst die Landkreise Harburg, Lüneburg, Heidekreis, Lüchow-Dannenberg, Uelzen, Celle und Gifhorn sowie die Stadt Wolfsburg. Im Landkreis Harburg lag die Zahl der Gründungen mit 1838 leicht unter der des Vorjahres (1871).
- Der Onlinehandel war die Branche, in der die meisten Gründungen in der Region verzeichnet wurden. Auch in den Bereichen Hausmeisterdienste, Garten- und Landschaftsbau sowie Unternehmensberatung machten sich viele Menschen selbstständig. Ein Trend: Im Jahr 2020 gründeten deutlich mehr Menschen im Nebenerwerb ein Unternehmen.
- Im Handwerk sieht es ähnlich aus. 2020 wurden bei der Handwerkskammer (HWK) Braunschweig-Lüneburg-Stade 2055 Betriebe neu eingetragen. Dies ist ein leichter Anstieg gegenüber dem Vorjahr (1099). Im Landkreis Harburg kamen 178 Firmen hinzu, im Landkreis Lüneburg 75 und im Landkreis Stade 83. Der HWK-Bezirk reicht von der Nordsee bis zum Harz und ist damit der größte Kammerbezirk in Deutschland.