Lüchow. Mann oder Frau? Jugendlicher oder Erwachsener? Archäologen tüfteln an einer Leiche aus Norddeutschlands ältestem Grab.

Behutsam pinselt Birgit Schaaf das Knochenfragment frei. Sie ermöglicht Anthropologin Ute Brinker damit eine Identifikation. „Zum Teil arbeite ich mit Zahnarzt-Besteck“, sagt Schaaf. Die ehrenamtliche Helferin der Schleswiger Archäologen hat mehr als 40 Jahre archäologische Erfahrung. In der großen Holzkiste vor ihr liegt ein 10.500 Jahre alte Brandschüttung. Im Oktober haben Archäologen um Grabungsleiter Harald Lübke die menschlichen Überreste im Duvenseer Moor bei Lüchow im Herzogtum Lauenburg gefunden.

Noch stellen sich den Forschenden auf der Museumsinsel Schloss Gottorf viele Fragen zu den Gebeinen des ältesten Menschen aus dem Bereich der fünf Nordländer. „Es handelt sich definitiv um das älteste Grab Norddeutschlands“, sagt Lübke. Unter den kontrollierten Bedingungen der Zentralwerkstatt des Museums für Archäologie will er mit seinem Team auf Schloss Gottorf – so gut dies nach so langer Zeit noch möglich ist – in den kommenden Wochen die Geheimnisse des Grabs lüften.

10.500 Jahre alte Leiche: Ein Zahn als Hauptgewinn

Restaurateurin Corinna Mayer versucht währenddessen, die Knochen des Steinzeit-Menschen zu konservieren. „Das wird bröselig“, sagt sie. Für sie wäre der Fund eines Zahns der Hauptgewinn. „Das Material in den Zähnen ist das härteste, dass der menschliche Körper überhaupt herstellen kann.“

Den Forschenden hilft, dass die Gebeine des steinzeitlichen Norddeutschen nur zum Teil verbrannt sind, gleiches gilt für das Holz des Scheiterhaufens. Sie hoffen, in den Knochen noch DNA zu finden. Proben für eine Radiokohlenstoffdatierung (C14-Datierung) sind bereits entnommen. Mit Ergebnissen rechnet Lübke in den kommenden Wochen. „Wir hoffen im Idealfall auf eine Datierung um plus/minus 30 Jahre.“ Bei einer sogenannten Brandschüttung wurden der Leichnam verbrannt und die Reste des Scheiterhaufens später an anderer Stelle deponiert.

Ein Zahn wäre der Hauptgewinn: Ein Prähistoriker legt im Labor im Schloss Gottorf in Ausgrabungen des ältesten norddeutschen Grabes menschliche Überreste frei.
Ein Zahn wäre der Hauptgewinn: Ein Prähistoriker legt im Labor im Schloss Gottorf in Ausgrabungen des ältesten norddeutschen Grabes menschliche Überreste frei. © dpa

Ähnlich alter Leichenbrandfund nur in Jütland

Im Herbst waren Archäologen im Duvenseer Moor auf die erste in Schleswig-Holstein entdeckte mesolithische Bestattung gestoßen. Für Lübke noch immer eine wissenschaftliche Sensation. Seit knapp 40 Jahren arbeitet er in der Region. „Dort habe ich 1984 als Student meine erste Steinzeitgrabung mitgemacht, das war für meine Arbeit prägend.“

Nördlich der deutschen Mittelgebirge gibt es nach seiner Kenntnis nur bei Hammelev in Jütland (Dänemark) einen ähnlich alten Leichenbrandfund. Bekannte Gräber steinzeitlicher Jäger und Sammler beispielsweise aus Mecklenburg-Vorpommern seien jünger, zwei in Brandenburg in Flüssen gefundene Schädel etwas älter.

Leiche aus Duvenseer Brandgrab: Mann oder Frau?

Noch ist unbekannt, ob es sich bei dem Duvenseer Brandgrab um eine Frau oder einen Mann handelt. Wie die Person starb, lasse sich wohl nur klären, „falls wir Hinweise auf eine Pfeilspitze an den Knochen finden“, sagt Lübke. Um ein Kind handele es sich aber wohl nicht, eher um einen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen sei der Fund von Knochen weiterer Menschen.

Grabungsleiter Harald Lübke und sein Team stehen noch vor einigen offenen Fragen.
Grabungsleiter Harald Lübke und sein Team stehen noch vor einigen offenen Fragen. © dpa

Keine Spur gibt es bislang vom Schädel des Toten. Lübke erforscht seit Jahrzehnten das Leben der mesolithischen Jäger und Sammler im Norden. Das Fehlen des Schädels im Brandgrab könne religiöse Gründe haben und sei nicht ungewöhnlich, sagt der gebürtige Hamburger: „Denken Sie an die deutschen Kaiser im Mittelalter. Da wurde das Herz an anderer Stelle deponiert als der Körper.“

Schädel wurde möglicherweise separat bestattet

Nur wenig sei bislang darüber bekannt, wie die Menschen zur Zeit des Duvenseer Brandgrabs mit ihren Toten umgegangen seien, sagt Lübke. Es gebe lediglich Indizien, die auf eine separate Bestattung von Schädeln hindeuten. „Ob das wirklich so war, wissen wir nicht.“

Seit 100 Jahren graben Archäologen immer wieder im Duvenseer Moor. An den ehemaligen Ufern des früheren Sees gibt es mehr als 20 Fundstellen, darunter steinzeitliche Wohnplätze. Als sie bewohnt waren, lag die letzte Eiszeit bereits mehr als 1000 Jahre zurück. Die Ostsee in ihrer heutigen Form existierte noch nicht, stattdessen gab es viele Seen.

Weitere Grabungen im Duvenseer Moor geplant

Lübke will im Sommer erneut im Duvenseer Moor graben. Mindestens sechs Wochen lang mit acht Studenten. Alles zu schaffen, wäre dann in diesem Jahr aber nicht möglich. Es gebe dort so viele Funde, sagt Lübke. „Da stellt sich die Frage: War das alles nur Teil eines großen Totenrituals? Wenn das so wäre, dann haben wir bislang maximal ein Viertel der gesamten Situation von vor 10.500 Jahren erfasst. Lübke hofft deshalb auf zusätzliche Unterstützung, um die Feldkampagne verlängern zu können.

Denn dem Archäologen läuft die Zeit davon. „Die dortigen Feuchtböden sind durch den Klimawandel stark gefährdet, weil das Moor vor allem an den Rändern zunehmend austrocknet“, sagt er. Die Zerstörung der Kulturschätze geschehe im Verborgenen. „Das wird in 20 Jahren alles Krümeltorf sein.“