Lübeck. Spielen, spielen, spielen: Der Künstler verwandelt eine ganze Stadt – und erklärt, warum er dabei gern Grimassen macht. Eine Begegnung.

Jonathan Meese macht, was man von ihm erwartet. Der bedeutendste deutsche Gegenwartskünstler steht vor dem Lübecker Holstentor und zieht Grimassen, macht Faxen, gleich wird er den Hitlergruß zeigen (der bei ihm Meesegruß heißt und gaaaaanz was anderes bedeutet). Eine Gruppe Schülerinnen bleibt irritiert stehen: „Wer ist der langhaarige, alte Mann?“ Das ist Jonathan Meese, ein Künstler, der stellt gerade in allen Museen Lübecks aus, eine Mammutschau namens „Dr. Zuhause: K.U.N.S.T. (Erzliebe)“. Ah ja. Die Schülerinnen haben gelernt: Künstler spinnen. Aber vielleicht sind sie auch ein bisschen interessant.

Allerdings spinnt Meese nicht wirklich. Meese spielt eine Rolle, seit Jahrzehnten: die des durchgeknallten Künstlers. Und solange die Presse ihm die abkauft, kann er hintenrum seine Kunst machen. Eine Kunst, die in Lübeck einen starken ideologiekritischen Zug angenommen hat, und um den zu verdeutlichen, hat Meese eine allegorische Figur eingeführt: das kleine Kind, das noch nicht von Religion, Politik, Ideologie verbildet ist und sich optimal zum Künstler eignet. „Alles, was ohne Ideologie stattfindet, ist Kunst“, deklamiert er. „Alle Kinder machen Kunst.“

Im direkten Gespräch aber zeigt sich ein anderer Jonathan Meese. Da werden keine „Alle Kinder machen Kunst“-Stanzen abgesondert, da wird nicht grimassiert, da sitzt einem ein freundlicher, reflektierter Herr gegenüber. „Man benutzt die Form, um einen völlig anderen Inhalt zu erschaffen, nämlich den der Politiklosigkeit. Man schreibt ein politikloses Manifest“, erklärt er seine Kritik an Ideologien. Und dieses politiklose Manifest würde dann so aussehen: „Wenn man sagt ,Spielen, spielen, spielen‘, steckt nichts dahinter, kein Gruppenzwang, keine Partei, keine Sekte.“ Spielen. Was das kleine Kind so macht.

Sechsjähriger Kölner malt abstrakte Bilder

Für die St. Petri Kirche in der Lübecker Innenstadt hat Meese eine raumgreifende Installation erschaffen. Dort, wo in einer Kirche ansonsten Christus am Kreuz hängt, hat er ein Foto Richard Wagners platziert, als Altar für seinen Kunstgott. Dieser Altar ist wichtig. Was aber ebenso wichtig ist, ist das Schild im Eingangsbereich: „Vorsicht! Spielende Kinder!“.

„Die St. Petri Kirche ist der Spielraum zwischen Richard Wagner und den spielenden Kindern. Das ist der Zwischenraum, der gefüllt werden muss!“ Nur ist der Raum kein Spielplatz, kein Kindergarten, und auch kein Museum, es ist eine Kirche, ein ganz spezieller Raum. Würde „Achtung! Spielende Kinder!“ in einem neutralen Raum nicht besser funktionieren? „Die Kunst macht ihn neutral“, beschreibt Jonathan Meese die Situation. „Die Kunst ent-ideologisiert alles, auch die Religion.“

Jemand wie Mikail Akar müsste Meese gefallen. Der sechsjährige Kölner malt abstrakte Bilder, verdient damit vierstellige Beträge und wird vom Kunstmarkt als „Kindergarten-Picasso“ gelabelt. Derzeit stellt er in der Hamburger HafenCity aus. Super, oder? „Als Spiel finde ich das in Ordnung“, meint Meese. „Es ist die Frage, ob er das durchhalten kann. Jedes Kind ist Picasso, jedes Kind ist Jonathan Meese, jedes Kind ist Richard Wagner. Diesem Kind kann man nur viel Glück wünschen.“ Ein Spiel, das das echte Kind Mikail ebenso spielt wie das Kunstkind Jonathan. Aber immerhin sorgt dieses Spiel beim Kunstkind dafür, dass es zu den umsatzstärksten Künstlern auf dem Markt zählt.

Weshalb das Gehampel?

Humor jedenfalls hat Meese. Wenn man ihn auf Entwicklungen seiner Kunst anspricht, auf einen stärkeren Vergangenheitsbezug als früher, der vielleicht mit seinem fortgeschrittenen Alter zu tun haben könnte, brummt der Endvierziger zustimmend „Joa“. Das Spiel mit der Öffentlichkeit, das sich in seinem Rumgehampel vor dem Holstentor zeigt: „Eine Kamera motiviert mich. Und meine Themen werden in die Welt getragen. Das ist gut für die Kunst und gut für die Sache, weil ich nur Gutes über die Kunst rede. Ich bin nicht zynisch geworden oder verbittert, ich bin einfach gleichbleibend treu der Kunst.“

Und der Heimatbegriff im Ausstellungstitel „Dr. Zuhause“? Immerhin stammt Meese aus dem Süden Schleswig-Holsteins; auch wenn er längst seinen Hauptwohnsitz in Berlin hat, ist ­Lübeck für ihn tatsächlich eine Art Heimat. „Ich bin in Ahrensburg aufgewachsen und fühle mich da immer noch zu Hause“, erzählt er. Er brauche nicht immer wieder Neues: „Ich bin ein Typ, der immer das Gleiche macht: Ich gehe immer in den gleichen Supermarkt, immer in die gleichen Restaurants. Und das gibt einem auch Kraft!“ Ein Typ, der immer das Gleiche macht: Man darf sich nicht beschweren, dass so jemand seit 20 Jahren grimassierend vor Kameras tanzt. Man erwartet es von ihm, also macht er es. Immer wieder.