Hamburg. Die Karte zeigt Städte und Länder, aber auch Bibelszenen, Tiere und Monster. Eine Welt, in der andere Maßstäbe galten als heute.

Wenn Ulfert Tschirner sich auf Reisen begibt, taucht er tief ab in Archive, Datenbanken und wissenschaftliche Aufsätze. An diesem Tag widmet er sich bunten Zeichnungen. Der Historiker geht mit schnellen Schritten durch die hellen Gänge des Museums Lüneburg bis zu einem kleinen Ausstellungsraum. Dort hängt die Ebstorfer Weltkarte – die größte aus dem Mittel­alter überlieferte Karte ihrer Art. Eine Fläche von zwölf Quadratmetern nimmt sie ein, fast die gesamte Wand.

„Das ist wie ein großes Wimmelbild“, sagt Ulfert Tschirner, ein groß gewachsener Mann in Jeans und hochgekrempeltem Hemd. Um das Ausmaß der Karte zu erfassen, legt er den Kopf schief. Wo war noch gleich der Stern von Bethlehem? Seine Augen suchen die Fläche ab. Ganz oben pflücken Adam und Eva im Paradies den Apfel vom Baum, weiter unten ist die Arche Noah zu sehen, daneben der Turm zu Babel. Ein geschwungener Schriftzug im mittleren Teil weist auf die Zerstörung von Sodom und Gomorra hin. Zu den Rändern hin sind Tierdarstellungen zu erkennen. Aber dazu später mehr, erst der Stern.

„Da.“ Auf gleicher Linie, aber ein ganzes Stück vom himmlischen Jerusalem im Zentrum entfernt, leuchtet der gelbe Stern von Bethlehem. Zufrieden dreht Ulfert Tschirner sich um. „In dieser Karte ist das mittelalterliche Weltwissen gebannt. Es geht nicht um Entfernungen, sondern um das Wunderwerk der Schöpfung.“

Was zählt in dieser Welt?

Die Ebstorfer Weltkarte lieferte schon damals Antworten auf die Frage: Was zählt in dieser Welt? Jedoch weniger in der heute üblichen, korrekt vermessenen und nachprüfbaren Darstellung von Grenzverläufen oder Flächengrößen. Der Blick ist vielmehr auf christliche und auch fantastische Symbole gerichtet, die dem damaligen Weltbild Stabilität verliehen.

Ulfert Tschirner steht zwischen den Welten. Hinter ihm reiht sich ein Globus an den anderen, die Sammlung versinnbildlicht das naturwissenschaftlich-technisch geprägte Weltverständnis der Neuzeit. Vor ihm hängt die Karte, die einen Einblick gibt, was für die Menschen im Mittelalter bedeutsam war.

Als die Weltkarte um 1300 entstand, war die Vorstellung der Welt als einer flachen Scheibe bereits überholt. Man ging von einer kugelförmigen, jedoch nur auf einer Seite bewohnten, Erde aus. Im sogenannten T-O-Schema sind die drei damals bekannten Kontinente abgebildet, getrennt durch die Meere. Anders als heutige Karten, die in der Regel genordet sind, sind die mittelalterlichen Mappae Mundi – so der Fachbegriff – zumeist nach Osten ausgerichtet. Auch die Ebstorfer Karte zeigt Asien im oberen Teil. Rechts liegt Afrika, und unten links ist Europa verortet, mit Städten wie Paris, Rom, Braunschweig und Lüneburg – letztere nehmen zusammen ebenso viel Platz ein wie Rom. Auch Bremen ist eingezeichnet, daneben eine Insel: Island.

Wissen des Mittelalters

Auf rund 3,50 mal 3,50 Metern schlängeln sich Handels- und Reisewege. Sie verbinden Palästina mit Indien, Afrika mit Kleinasien. Die dargestellte Welt wird durch den Körper Christi gerahmt: Unten sind zwei kleine Füße zu sehen, oben der Kopf, an den Seiten die Hände. Dazwischen finden sich Bilder von Menschen, die vor allem im äußersten Osten auf die Existenz verschiedener Völker verweisen, sowie viele Tierzeichnungen.

„Die Tiere weisen durch das, was sie tun, auf das Wirken Gottes hin“, sagt Lena van Beek. So seien der Pelikan, der seine Jungen mit dem eigenen Blut ernährt, und der Löwe, der seine Jungen wieder zum Leben erweckt, Hinweise auf die Auferstehung Christi. Die Literaturwissenschaftlerin ist auf Mediävistik spezialisiert und setzt die Ebstorfer Weltkarte in ihren Seminaren an der Universität Hamburg ein.

„Die erste Frage der Studierenden ist immer: Was ist wo? Aber es gibt viel mehr darauf zu entdecken. Die Karte spiegelt das enzyklopädische Wissen des Mittelalters wider“, sagt die 32-Jährige. „Und sie hat einen hohen Unterhaltungswert.“ Das liegt nicht zuletzt an den Monstern und Fabelwesen, die ebenfalls auf der Karte zu finden sind.

Karte ist eine Kopie

Ihnen gilt Lena van Beeks besonderes Interesse. Sie lässt ihre Studierenden auf der Karte Einhorn, Phönix oder Basilisk suchen – das monströse Mischwesen aus Hahn und Schlange ist heute aus dem Harry-Potter-Universum bekannt. Zumeist finden sich die fantastischen Wesen im asiatischen Bereich, teilweise auch im afrikanischen – am Rand der Welt, wie Lena van Beek sagt. Was fernab der Wahrnehmung des Kartenzeichners lag, erhielt eher fiktive Züge als ihm Bekanntes. Gänzlich ungeheuerlich sind schließlich die beiden Endzeitmonster, die einen Menschen verspeisen. Die Kreaturen sind kein Widerspruch zu den biblischen Darstellungen. Die Vielfalt der Lebewesen sei vielmehr ein Zeichen für die Existenz einer höheren Macht, sagt Lena van Beek. „Es geht um die Natur als Schöpfung Gottes.“

Die Karte birgt auch für Ulfert Tschirner bedeutsame Hinweise auf das mittelalterliche Weltverständnis. Doch sein Interesse hat einen weiteren Grund. „Die Karte wäre heute sicher Unesco-Weltdokumentenerbe“, sagt er. „Wenn es das Original wäre.“ Doch in Lüneburg ist eine Kopie zu sehen.

Für den Historiker ist das ein Glücksfall. Schon in seiner Doktorarbeit beschäftigte sich der heute 43-Jährige mit der Verbindung zwischen Museum, Fotografie und Reproduktion. Als er 2008 als Kurator für den Bereich Kultur nach Lüneburg kam, wusste er sofort um den kulturhistorischen Wert der Karte, die selbst eine bewegte Geschichte hat.

Hinterfragen der eigenen Sicht

Das ursprüngliche Werk entstand um das Jahr 1300, es verbrannte jedoch bei einem Bombenangriff 1943 im Stadtarchiv Hannover. Das hätte das Ende dieses Kulturdokuments sein können. Doch tatsächlich haben spätere Bemühungen, die Karte zu rekonstruieren, zu einer besonders intensiven Auseinandersetzung damit geführt. Vielleicht hat das Feuer sogar verhindert, dass die Ebstorfer Weltkarte erneut in Vergessenheit geraten würde.

1830 hatte man die Karte zusammengerollt im Ebstorfer Kloster nahe Lüneburg gefunden. Dort war sie vermutlich entstanden, hatte mehrere Jahrhunderte überstanden und war irgendwann in einer Abstellkammer gelandet. An zwei Stellen hatten Mäuse das Pergament angeknabbert, so verschwand unter anderem das Gebiet des heutigen Brandenburgs aus der Karte. Wenig später fehlte zudem ein etwa 30 mal 30 Zentimeter großes Stück aus dem oberen Teil, irgendjemand hatte es herausgeschnitten. „Dort könnte eine besondere Tierdarstellung zu sehen gewesen sein, die sich jemand sichern wollte“, mutmaßt Ulfert Tschirner. „Vielleicht taucht es irgendwann doch noch in einem Archiv alter Handschriften auf.“

Auch um das Werk besser zu schützen, ging es 1833 nach Hannover. Dort entstand der Plan, die Karte durch die damals neue Technologie der Fotografie zu reproduzieren. Dafür wurde sie in 30 Einzelteile zerlegt. Die Bilder erschienen 1891 als Lichtdrucke in einem großformatigen Atlas. Die Einzelteile kehrten nach Hannover zurück, in einen eigens dafür angefertigten Schrank. Während der Atlas bis heute als wichtige Quelle für die Forschung dient, führte das Original bis zu seiner Zerstörung ein Schattendasein im Schrank des Staatsarchivs.

Ergänzungen und Auslassungen

Die Lüneburger Kopie entstand 1953 auf Initiative des damaligen Museums für das Fürstentum Lüneburg. Der Kunstmaler Rudolf Wienecke hatte ein Verfahren entwickelt, mit dem er Zeichnungen über Druckplatten auf Pergament vervielfältigen konnte. So schuf er vier Faksimiles. Diese sollen sich visuell nicht vom Original unterscheiden.

„Ganz so originalgetreu sind sie aber offenbar doch nicht“, sagt Ulfert Tschirner. Dem Kunstmaler dienten die Lichtdrucke als Vorlage. „Schon für die Fotografien wurden einige Linien nachgemalt und die Platten erneut fotografiert.“ Mehrere Stellen sind möglicherweise nicht korrekt wiedergegeben, andere wurden wegretuschiert. Spätere Versuche, die Karte zu rekonstruieren, brachten weitere Retuschen, Ergänzungen und Auslassungen mit sich.

Von den vier Faksimiles ist eines an den Ursprungsort des Originals zurückgekehrt und heute im Kloster Ebstorf zu sehen. Eines erwarb die Stadt Kulmbach für ihr Museum auf der Plassenburg, und eines hängt im Museum Lüneburg. Das vierte schenkte ein Hamburger Indus­trieller dem griechischen König. Dieses Exemplar ist heute verschollen.

Weltkarte unter Experten international bekannt

Einen Bekanntheitsschub erlangte die Weltkarte durch ihre erste Digitalisierung zu Beginn der 1990er-Jahre an der Universität Lüneburg. Eine digitale Neuedition aus dem Jahr 2007 zeigt schließlich auch Unklarheiten sowie Anschlussfehler zwischen den Einzelteilen. „Zuvor stand die Bedeutung als Ausstellungsstück im Vordergrund“, sagt Ulfert Tschirner. „Die aufkommende Medienkritik hat noch einmal einen neuen Blick auf die Karte ermöglicht.“ Es ist die sehr aktuelle Frage nach Original und Fälschung, nach Wahrheitstreue und fantasievoller Auslegung hinzugekommen.

Heute ist die Ebstorfer Weltkarte unter Experten international bekannt und in vielen Schulbüchern abgebildet. Der Blick in die Vergangenheit sei hilfreich, um auch heutiges Wissen kritisch zu hinterfragen, sagt Lena van Beek. Wer könne schon wissen, wie die Menschen in 800 Jahren unsere Sicht der Welt bewerteten. „Die Ebstorfer Weltkarte ist ein Zeugnis dafür, wie sich die Perspektive auf die Welt verändern kann.“

Für Ulfert Tschirner ist auch die Geschichte der Karte selbst nicht abgeschlossen. Es bleiben viele offene Fragen: Wo ist das vierte Exemplar? Warum sind die Äolischen Inseln doppelt abgebildet? Was war auf dem herausgeschnittenen Stück? Für den Historiker geht die Forschungsreise weiter.