Hamburg. Wurde eine Mutter von der DDR belogen und betrogen um ihr angeblich verstorbenes Kind? Eine Exhumierung brachte Klarheit.

Christa Steenvoorden ist in den Momenten, da sich das Schicksal ihrer Tochter klären soll und damit auch ihr eigenes, ganz in der Nähe. Und doch weit genug entfernt vom Ort des Geschehens, damit sie den Schmerz irgendwie ertragen kann. Einen Schmerz, der seit mehr als vier Jahrzehnten in ihr bohrt. Deshalb macht die 66-Jährige einen Spaziergang in der Nähe des Sassnitzer Friedhofs, während einige Hundert Meter weiter eine Grabstätte geöffnet wird. Vielleicht ist es die ihrer kleinen Tochter, die dort seit 41 Jahren ruht?

Wahrscheinlicher, so meint die Mutter allerdings, ist es gar nicht ihr Kind, das auf diesem Friedhof begraben liegt. Christa Steenvoorden glaubt, dass ihre Tochter noch lebt. Und dass sie, die Mutter, seit deren vermeintlichem Tod im Jahr 1977 belogen und betrogen wurde. Betrogen um ihr Kind. Es war für die Frau von Rügen ein langer, belastender Weg, der nun wieder zu diesem Friedhof geführt hat. Christa Steenvoorden ist sehr oft an diesem Grab gewesen, das für sie ein Ort der Trauer ist, aber auch ein Ort des Zweifelns, womöglich der Manipulation und des Unrechts. Gewissheit darüber, was aus ihrer Tochter geworden ist, sollen eine Exhumierung und ein DNA-Test geben. Beides übernehmen Fachleute des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin. Sie arbeiten in diesem Fall pro bono. Sie wollen der Frau helfen, ein Trauma zu überwinden.

Der Verdacht: Juliane wurde zwangsadoptiert

„Der Tod gibt keine Ruhe“, sagt der Direktor des Instituts, Klaus Püschel. „Er ist unser ständiger Begleiter, von dem wir uns nicht befreien können. Solange wir nicht wissen, was einem nahestehenden Menschen widerfahren ist, wohin er verschwunden ist, ob er tot ist oder vielleicht noch lebt, ob er leidet, können wir nicht anfangen, wirklich nach vorn zu blicken. Die Ungewissheit lähmt und zermürbt die Angehörigen. Deshalb ist es uns im Institut für Rechtsmedizin ein Anliegen, den Menschen zu helfen, nach jahrelanger, oft auch jahrzehntelanger Ungewissheit zu erfahren, was wirklich war.“

Juliane, als sie etwa zwei Jahre alt war, mit Luftballons.
Juliane, als sie etwa zwei Jahre alt war, mit Luftballons. © UKE | UKE

Es ist der 13. Dezember 1977, die DDR und mit ihr die Arbeit der Stasi in sozialistischer Blüte, als die damals 25-Jährige Christa überraschend zu einer Schulung in eine Sassnitzer Oberschule zitiert wird. Sie lässt ihre dreieinhalb Jahre alte Tochter Juliane für die Zeit bei den Großeltern in Obhut. Am Abend erhält sie eine Nachricht, die ihre Welt zusammenbrechen lässt: Ihr kleines Mädchen sei bei Oma und Opa in der Badewanne ertrunken, heißt es. Später erzählt Christa Steenvoorden, sie habe ihr Kind noch einmal sehen wollen, das sei ihr aber kategorisch verwehrt und Julianes Beerdigung in ungewöhnlicher Eile vorgenommen worden.

Steenvoorden glaubte nicht an den Tod der Tochter

Da ist unendliche Trauer, die die Mutter einhüllt. Doch es nagen auch Zweifel an Christa Steenvoorden. Tief in ihr drinnen, sagt sie, habe sie immer gefühlt, dass ihre Tochter noch lebt. „Ich glaube bis heute nicht, dass sie gestorben war. So wie ich es damals schon nicht wirklich geglaubt habe“, hat die Sassnitzerin gesagt. Die Frau hat einen schauerlichen Verdacht: Sie sei davon überzeugt, dass Juliane sozusagen zwangsadoptiert wurde und in einer anderen Familie aufwuchs. „Sie wurde mir entrissen.“ Ein anonymer Anruf vor zwei Jahren scheint die böse Ahnung der Floristin zu bestätigen. „Ihre Tochter Juliane lebt. Wann fangen Sie endlich an, sie zu suchen“, habe eine Frau zu ihr gesagt, erinnert sich Christa Steenvoorden. Der NDR hat als erstes über diesen Fall berichtet.

Christa Steenvoorden hat jetzt zumindest Gewissheit.
Christa Steenvoorden hat jetzt zumindest Gewissheit. © Privat | Privat

Die Mutter beginnt mit der Recherche und stößt auf Ungereimtheiten: gefälschte Unterschriften, und der Totenschein ist lange nicht aufzufinden; als er wieder auftaucht, enthält er ein falsches Geburtsdatum. Außerdem teilt ihr die Staatsanwaltschaft mit, dass es nirgendwo eine Ermittlungsakte zum Tod der Tochter gebe. Eine Georadarmessung, die die Uni Greifswald auf Bitten der Mutter an der Grabstelle durchführt, ergibt zwar vage Hinweise auf einen Sarg, nicht aber auf dessen Inhalt. Ein Antrag auf Exhumierung, den Christa Steenvoorden bei der Stadt stellt, wird mehrfach abgelehnt. Vor Gericht erzielt die Mutter schließlich einen Vergleich mit der Stadt, dass das Grab nun doch geöffnet werden darf.

Was würde dort zum Vorschein kommen? Zwangsadoptionen zählen zu den kaum aufgearbeiteten Kapiteln der DDR-Geschichte. Teilweise wurden Kinder von Eltern, die politisch nicht ins System passten, ihren Familien weggenommen, manche kamen ins Heim, manche zu Verwandten oder zu Fremden. Doch es gibt offenbar auch zahlreiche Fälle, in denen die Eltern belogen worden sein sollen. Bei Interessengemeinschaften wie unter anderem beim „Verein zur Aufarbeitung gestohlener Kinder der DDR und Ungeklärter Säuglingstod e. V.“ haben sich viele Familien gemeldet, die sagen, man habe ihnen seinerzeit mitgeteilt, dass die Kinder verstorben seien. Tatsächlich seien sie an SED-treue Familien weitergegeben worden.

Das rote Kleid wurde in dem Grab gefunden
Das rote Kleid wurde in dem Grab gefunden © UKE | UKE

Was also geschah damals mit der kleinen Tochter von Christa Steenvoorden? Es ist ein früher Morgen eines schönen Herbsttages, als sich ein Team vom Hamburger Institut für Rechtsmedizin auf dem Friedhof in Sassnitz daran macht, die Wahrheit herauszufinden. Unter anderem ist die Anthropologin Eilin Jopp-van Well dabei und der Biologe Oliver Krebs. Auch Christa Steenvoorden ist auf dem Friedhof. Die 66-Jährige ist aufgewühlt, zu nervös, um direkt dabeizubleiben. Also geht sie während der eigentlichen Grabung in der Nähe spazieren, betreut von Angehörigen.

Mutter hat jetzt traurige Gewissheit

„Die Frage war: Ist da was in dem Grab oder nicht?“, erzählt Anthropologin Jopp. „Ist das Kind gestorben oder nicht? Eine Exhumierung ist für die Angehörigen immer eine hoch emotionale Situation. Und auch für uns Experten ist es etwas Besonderes, weil wir wissen, wie viel es für die Familie bedeutet.“ Ihr Kollege Krebs ergänzt: „Wir wollen helfen, dass die Angehörigen endlich Gewissheit bekommen und so ein Stück inneren Frieden finden können.“

Die Experten nutzen zum Ausgraben Schaufel und Spaten, arbeiten sich durch schweren Lehmboden. Was das Graben besonders mühsam macht, ist in diesem Fall ein Vorteil: Der Lehm hat den Sarg gut erhalten. Darin liegen die Gebeine eines Kindes. Es gelingt, den kleinen Leichnam fast als Ganzes aus dem Sarg zu heben. Auf den ersten Blick spricht einiges dafür, dass es wirklich Juliane ist, die Tochter von Christa Steenvoorden. Unter anderem ähneln ein rotes Kleid und ein Stofftier, die im Grab gefunden werden, deutlich den Sachen, die die Mutter damals für die Beerdigung ihrer Tochter mitgegeben hatte. Doch diese Details sieht Christa Steenvoorden nicht. Nach ihrem Spaziergang während der Exhumierung wartet sie auf einer Parkbank.

DNA-Abgleich bringt Gewissheit

Gewissheit soll ihr ein DNA-Abgleich bringen. Dafür wird von der Frau eine Speichelprobe genommen. Und im Labor des Instituts für Rechtsmedizin wird von den kindlichen Knochen DNA extrahiert. „Für einen Abgleich eignen sich möglichst dicke, lange Knochen. Der Oberschenkel bietet sich an“, erklärt Biologe Krebs. Aus dem Knochen werden kleine Quader herausgesägt, die dann pulverisiert und molekularbiologisch untersucht werden. Es ist eine komplizierte Prozedur, und je älter die Gebeine sind, desto schwieriger wird es, ein einwandfreies Ergebnis zu bekommen. Im Fall des toten Kindes braucht es mehrere Versuche und einige Wochen, dann steht mit 99,999-prozentiger Sicherheit fest: Es ist die Tochter von Christa Steenvoorden.

Für die Rentnerin ist es schwierig, mit diesem Ergebnis zurechtzukommen. „Ich hatte so sehr gehofft, dass Juliane noch lebt“, sagt Christa Steenvoorden. „Dass ich sie irgendwann in die Arme würde schließen können.“ Jetzt weiß die Mutter, dass das nie wieder möglich sein wird. Sie hat Gewissheit. Traurige Gewissheit.