Hamburg. Andreas Burgmayer besitzt kein eigenes Fahrzeug mehr. Er nutzt Carsharing. Ein Erfahrungsbericht mit Mitleids-Effekt.

Diesen Blick des guten alten Freundes werde ich nicht vergessen. In ihm lag dessen volle Aufmerksamkeit, aber da war auch ein ungläubiges Stutzen und ein Hauch Mitleid, gepaart mit der Bereitschaft, sofort helfen zu wollen. „Wie, du hast dein Auto verkauft? Und kaufst kein neues?“ Als ich erneut bekräftigte, künftig nur noch als Carsharer unterwegs sein zu wollen, zerbrach irgendwas in diesem Blick. Ich spürte, der Mann glaubt dir kein Wort. „Andy, was ist los?“ Er fragte das mit dem Ton des guten Freundes, dem man doch alles erzählen kann. Selbst wenn es noch so schlimm und peinlich ist. Mit wurde klar, dass er glaubt, ich habe vielleicht Geldprobleme, sei irgendwie abgestürzt, habe vielleicht den Job verloren und rede nun um den heißen Brei herum.

Volvo 850 GLT Volvo 850: Früher ist der Autor dieses Modell gefahren
Volvo 850 GLT Volvo 850: Früher ist der Autor dieses Modell gefahren © Volvo Car Germany GmbH | Volvo

Dazu muss ich sagen, dass ich aus Süddeutschland stamme, genauer gesagt aus Baden-Württemberg – und noch genauer gesagt aus der Bodensee-Region. Dort teilt sich das Leben der Menschen in zwei Abschnitte – den ohne Auto und den mit. Ich wurde in der 80er-Jahren auf dem Dorf groß und dort als Jugendlicher erdrückt von der Stupidität und Eintönigkeit des Dorfalltags. Der Führerschein, das erste Auto, das waren die Insignien der Freiheit, des Ausbruchs und die Eröffnung der Möglichkeit, endlich in jeden x-beliebigen Club der erreichbaren Großstädte zu fahren und dort die weite Welt zu suchen (und doch nur Julia aus Pfullendorf zu finden).

Heiligs Blechle

Sei’s drum: Ohne Auto zu sein hieß, verloren zu sein. Das ist keine Übertreibung. Jedes meiner Autos in dieser Lebensphase hatte ich bitter nötig, den kleinen Audi 50 in Orange mit braunen Kunstledersitzen ebenso wie den grünen Polo mit Sportsitzen, den silbernen Langweiler-Golf oder den feuerroten Surfer-Passat, allesamt heruntergerockte Gebraucht-Kisten vom lokalen VW-Händler, aber immer mit ausgezeichnetem, selbst eingebautem Soundsystem. Will sagen: Das Blechle war mir ebenso heilig wie jedem anderen in meiner Heimat.

Der kleine Kombi: Bei seiner Präsentation 1981 erregte der Polo II mit seiner Steilheckkarosserie große Aufmerksamkeit Polo.
Der kleine Kombi: Bei seiner Präsentation 1981 erregte der Polo II mit seiner Steilheckkarosserie große Aufmerksamkeit Polo. © Volkswagen AG | Volkswagen AG

Gut, der alte Freund, dessen Missverständnis ich gerade auf Heimaturlaub in einem Café in Radolfzell am Bodensee erntete, steht zum Auto in etwa so wie der Papst zum christlichen Glauben. Nur ist sein Petersdom der SUV von VW, seine Bibel die „Auto Motor und Sport“ und seine heilige Messe die IAA in Frankfurt. Schon klar, dass für ihn Carsharing der Sündenfall ist. Und selbstredend weiß er als Kleinstadtbewohner nichts vom Hamburger Großstadtleben und wie sehr öffentlicher Nahverkehr kombiniert mit Carsharing hier Sinn macht. So fand ich mich also wieder in der Situation desjenigen, der sich erklären muss – wie in so vielen Diskussionen der letzten drei Jahre. Was widersinnig ist. Erklären sollte sich derjenige, der jeden Morgen allein in einem viel zu großen Auto vom Umland ins Stadtzentrum zum Job pendelt.

Für den alten Volvo 850 gab es nur noch einen Tausender

Aber ich argumentiere gern in eigener Sache, weil ich auch nach drei Jahren ohne eigenes Auto komplett überzeugt von meinem Mobilitätskonzept bin. Zugegeben – es war nicht einfach, damals 2015, als ich meinen Volvo 850 – Baujahr 1997, noch echter Schwedenstahl – abgab. 1000 Euro gab mir mein Volvo-Schrauber dafür. Noch heute drehe ich mich nach jedem 850er um. Könnte er das sein? Automobile Nostalgieanfälle. Auch das Lieblingsauto meiner kinderlosen Zweisamkeit mit meiner Frau, ein roter Alfa Romeo Spider, kurvt irgendwo in der Stadt mit einem Kinderarzt am Steuer durch die Straßen.

Der Volvo stand nur noch am Straßenrand in der Schanze. Weil ich dort ja erst mal 4,70 Meter freien und kostenlosen Straßenrand finden musste und den, wenn er erkämpft wurde, nur unter Zwang wieder hergab. Der Volvo hatte zuletzt Moos an den Fensterdichtungen. Er war unsere Familienkutsche, wir nannten ihn Elch. Solange die Tochter klein war, kutschierten wir damit überallhin. Das praktischste Auto der Welt.

Hohe Benzinkosten

Aber auch kostspielig. Die 5-Zylinder-Maschine mit 2435 Kubikmeter Hubraum und 144 PS Leistung hatte Durst. Zehn bis zwölf Liter Superbenzin im Stadtverkehr. Der 70-Liter-Tank musste damals etwa in der Regel zweimal im Monate vollgetankt werden, was bei Benzinpreisen um die 1,50 Euro immer Dreistelligkeit auf der Euro-Anzeige der Tanksäule bedingte. 180 bis 200 Euro Benzinkosten waren es also nicht selten.

Hinzu kamen regelmäßige Wartung und Reparatur. Der alljährliche Gang zum Schrauber am Jahresende fraß regelmäßig einen Gutteil des sauer verdienten Weihnachtsgelds. Irgendwie waren immer 600 bis 1200 Euro futsch. Dazu noch die Kraftfahrzeugsteuer von 190 Euro und die Versicherungskosten von etwa 570 Euro jährlich. Ach ja: Zwischendurch mussten bei dem im beladenen Zustand knapp zwei Tonnen schweren Auto die 195er-Reifen erneuert werden.

In einer ruhigen Minute rechnete ich aus, dass mich das Auto im Monat mindestens 250 Euro und bis zu 350 Euro kostete. Viel Geld für gelegentliche Ausflüge in den Tierpark, an die See und im Großraum Hamburg, vor allem aber für das tief verinnerlichte Denken, ohne eigenes Auto nicht überlebensfähig zu sein. Fahrten zu Oma und Opa an den Bodensee, zu Freunden nach München oder in die Schweiz bewältigten wir nur noch mit der Bahn. Auch weil der Elch gerne mal liegen blieb nach 600 Kilometern und wir Bekanntschaft machten mit ADAC-Abschleppfahrern in entlegenen Gegenden, in denen das Licht noch mit dem Hammer ausgemacht zu werden schien.

Redakteur Andreas Burgmayer 2005 mit seinem Alfa Romeo Spider 2000 in der Toscana
Redakteur Andreas Burgmayer 2005 mit seinem Alfa Romeo Spider 2000 in der Toscana © Andreas Burgmayer | Andreas Burgmayer

Ein Kollege in der Redaktion, der sich selbst gerade seines klapprigen Franzosen endgültig entledigt hatte, gab schließlich den Anstoß. „Mach’s wie ich. Mach Carsharing.“ Der Mann ist heute Extreme-Carsharer und macht selbst wochenlange Urlaubsfahrten nach Polen nur mit Autos von der Anmietstation um die Ecke. Sein gutes Zureden paarte sich mit unwiderlegbaren Argumenten gegen ein Privatauto als Muss. Die U-Bahn-Linie 1 endet quasi genau unter meinem Bürostuhl in der Abendblatt-Redaktion Norderstedt, und komfortablerweise stellt mir mein Arbeitgeber für Dienstfahrten einen Abendblatt-Smart.

Gleichwohl stieg es heiß und kalt auf in mir beim Gedanken an den Schritt in die erneute Autolosigkeit. Nach kurzem Hadern entschloss ich mich für den kalten Entzug von der automobilen Abhängigkeit und fuhr an einem kalten und feuchten November-Abend zu meinem Volvo-Schrauber. „Wie gesagt, mehr als 1000 Euro sind nicht drin“, sagte er. Ich nahm das Geld bar entgegen, räumte den Innenraum des Elchs, strich ein letztes mal über seine Haube, hauchte verlegen ein „Mach’s gut!“ und taperte mit für mich sinnlos gewordenem Autozubehör und einer abgenutzten Kindersitzschale nach Hause. Nie mehr TÜV, dachte ich unwillkürlich. Nie mehr Werkstattrechnungen! Nie mehr ADAC! Nie mehr A.T.U.! Pathetischerweise hatte ich plötzlich Martin Luther Kings Stimme im Kopf. „Free at last, free at last, thank God almighty, we are free at last!“

Rechtzeitig ein Auto

Zu Hause griff ich zum Smartphone und meldete mich bei Car2Go, Cambio und Drive Now an. Nach der Verifizierung meiner Papiere auf den jeweiligen Geschäftsstellen war ich wenige Tage später offiziell Carsharer. Und dann, am 3. Dezember 2015, 18.21 Uhr, begann vor dem Peco-Laden am Schulterblatt in einem fabrikneuen Mini 3-Türer des Anbieters Drive Now mein aktives Carsharing-Dasein. Erster Einsatz: Tochter vom Hockey-Training abholen. Und gleich exemplarisch. Du musst um 19 Uhr vor der Halle sein, brauchst also rechtzeitig vorher ein Auto. Was, wenn keines in Laufweite steht? Und du willst ja auch nicht für eigentlich nur zehn Minuten Hin- und Rückfahrt eine halbe Stunde ein Auto mieten! Hm.

Erste Lektion für das Carsharen: Lage, Lage, Lage. In der Schanze, in Eimsbüttel oder Eppendorf leben und car­sharen – kein Problem. So viele Autos kannst du gar nicht fahren, wie dort regelmäßig verfügbar sind. Im Schanzenviertel lerne ich dabei viel über das Schwarmverhalten der Hamburger. Morgens invadieren die Carsharing-affinen Mitarbeiter der diversen Agenturen im Viertel die Schanze mit Smarts und Minis, und abends – gegen 19 Uhr geht es los – kommen all jene, die sich in der ausgeprägten Kneipenszene umtun. Noch mehr Carsharing-Autos spülen nur noch internationale Veranstaltungen in den Messehallen ins Viertel. Ein Sharing-Tsunami entsteht, wenn jährlich die Online Marketing Rockstars aus der Lagerstraße ihr Stelldichein der digitalen Prominenz beim OMR-Festival feiern. Die digitale Welt shared Autos wie verrückt.

Für jeden Zweck mietet man sich das passende Auto

In anderen, der Innenstadt fernen Wohngebieten sind hingegen Pendlerbewegungen spürbar. Wer die Apps der Anbieter am frühen Abend checkt, stellt fest, dass sich viele Autos an den Rändern der Geschäftsgebiete, etwa entlang des Jenischparks, befinden. Manche fahren offenbar von der Arbeit so weit es geht, laufen den Rest oder nehmen Bus oder Bahn. Andere wollen vielleicht nur eben auf die Hundewiese im Park. Wenn man also autolos am Jenischpark wohnt und mal eben was erledigen will, dann sollte man das frühmorgens oder abends tun. Dazwischen kann das Carsharing-Angebot spärlich werden.

Als Anfänger bei meiner ersten Fahrt mäanderte ich, geführt von der Drive-Now-App, schon eine Stunde vor dem Abholtermin an der Hockey-Halle aufgeregt durch die Schanze, mietete schließlich viel zu früh, machte beim eigentlich einfachen Anmeldeprozess im Auto alles falsch, hatte schließlich einen seufzenden und sehr hilfreichen Drive-Now-Mitarbeiter am Telefon, und nach nur 15 Minuten im stehenden Auto (mit einem auf den frei werdenden Parkplatz wartenden, zunehmend wahnsinnig werdenden Mercedes-Fahrer am Heck) ging es auch schon los. Rechtzeitig allerdings für meine Tochter. Erstes Erfolgserlebnis: Der coole, im Cockpit in allen Farben leuchtende Flitzer mit extrem gutem Soundsystem gefiel der Tochter und deren Freundinnen. Wobei die Tochter auch jetzt erst begriff, was Sache ist. „Wie, der Elch ist verkauft?“ Nach kurzer Erläuterung sagte sie: „Und jetzt fahren wir immer Mini? Gechillt!“

Wir fahren seither natürlich nicht nur Mini, sondern sämtliche gängigen BMW- und Mercedes-Modelle, dazu die halbe Fahrzeugpalette von Ford, neuerdings auch Toyota-Hybrid-Autos. SUVs wenn wir es kommod brauchen, Transporter für den Ikea-Einkauf, Kombis für die Fahrt zum Auswärtsspiel (mit Hockey-Trainer und weiteren Spielerinnen im Fond) und natürlich Cabrios für die Fahrten in den Sonnenuntergang auf der Elbchaussee. Und: Wir reden nicht nur über Elektroautos, wir fahren sie, ständig und eigentlich am liebsten.

Neben Drive Now nutze ich hauptsächlich Car2Go und seit November auch Miles für die schnellen Fahrten in der Stadt. Das sind die sogenannten Free-Floating-Anbieter, deren Wagen man überall im Geschäftsgebiet auf jedem regulären Parkplatz abstellen kann. Übrigens – ein tolles Gefühl, also das Parken, ohne ein Ticket zu ziehen und dafür später keines vom Ordnungsamt zu bekommen!

Das automobile Leben ist billiger und viel entspannter

Für die längeren Familien-Ausflüge kommen stationsbasierte Carsharing-Anbieter infrage. Da muss der Kunde die Autos von einem festen Standort abholen und sie auch dort wieder abstellen. Während ich bei den Free-Floatern entweder Minuten- oder Kilometerpauschale zahle, haben die stationsbasierten Anbieter ein getrenntes Zeit- und Kilometer-System. Ich nutzte besonders Cambio, den Bremer Dinosaurier der Carsharing-Szene, der seit mehr als 25 Jahren Autos zum Teilen anbietet. In meinem Tarif ohne monatliche Kosten zahle ich pro Stunde drei Euro und 25 Cent für jeden Kilometer. Unser klassischer Familienausflug im Sommer von der Schanze an den Itzstedter See im Kreis Segeberg (sechs Stunden, 70 Kilometer) kostet mich also knapp 34 Euro. Ähnlich teuer sind auch Anbieter wie Greenwheels oder das gerade gestartete Oply. Beide nutze ich eher selten. Und Oply eigentlich nur zur Not: Die haben keine festen eigenen Parkplätze, sondern nur eng begrenzte „Nachbarschaften“, in denen man das gemietete Auto wieder auf kostenlosen Parkplätzen abstellen soll – in der Schanze sorgt das mitunter für eine halbe Stunde frustrierende Parkplatzsuche.

Doch bleiben wir beim Thema Geld und machen wir mal eben den Kassensturz. Wir nehmen die vergangenen zwölf Monate als Vergleichsbasis – in den 24 Monaten davor war mein Fahrverhalten nahezu identisch. Etwa 1300 Euro habe ich für Fahrten bei Drive Now und Car2Go ausgegeben, dazu kommen Cambio-Anmietungen, selten ein Mietwagen und das vom Arbeitgeber bezuschusste Profi-HVV-Ticket (knapp 70 Euro). Macht etwa 2300 Euro, also etwas mehr als 190 Euro im Monat. Im Vergleich zu den 250 bis 350 Euro mit dem eigenen Auto also eine spürbare Einsparung.

Viel wichtiger aber ist, dass sich mein mobiles Leben entspannter gestaltet als früher. In drei Jahren des Carsharings erinnere ich an keine Situation, in der ich nicht in vertretbarer Zeit oder Entfernung ein Auto gefunden hätte – und ich bin ein wenig geduldiger Typ. Nun gut – ich habe schon den einen oder anderen längeren Spaziergang hinter mich gebracht, teilweise im Regen und teilweise auch fluchend, weil man erst weiß, wie verwirrend es sein kann, sich mit einer Carsharing-App im Stadtplan zurechtzufinden, wenn man 500 Meter in die falsche Richtung und immer weiter weg vom Auto gelaufen ist und dann wieder alles zurück.

Kein eigenes Auto zu haben befreit mich von der lästigen Verantwortung für die Blechkiste. Das Auto wird reduziert auf das, was es sein soll: ein Mittel zum Zweck. Ich nehme mir ein Auto, wenn ich es brauche, und stelle es wieder ab. Schnell zur Party des Freundes und angetrunken mit dem Taxi zurück. Zum ­Jenischpark mit dem Cabrio und an der Elbe joggend zurück. In die HafenCity auf einen Kaffee und – weil man gerade Lust hat – mit dem Leihrad zurück. Ich könnte sogar eine Runde Autoposen mit dem AMG-Mercedes CLA 45 von Car2Go mit seinen 381 PS, was ich aber nicht tue, weil ich ein Gehirn habe. Das weiß allerdings seit drei Jahren nicht mehr, wie viel aktuell der Liter Super kostet. Ich habe eben meine Leute fürs Tanken.

Apropos tanken. Was meine Öko-Bilanz angeht, so habe ich ein reines Gewissen. Allein durch das Umsteigen auf die Bahn für die Fahrten zur Arbeit bin ich pro Jahr an die 8000 Kilometer weniger durch den Großraum Hamburg gegondelt. Und ich spare Zeit: Brauchte ich früher für die täglichen Fahrten zur Arbeit inklusive Parkplatzsuche 90 bis 100 Minuten, so liege ich jetzt bei etwa 80 Minuten. Macht bei 200 Arbeitstagen im Jahr fast eineinhalb Tage mehr Freizeit! Durch das Carsharing fahre ich weniger und nicht mehr Auto. Jede fahrt beginnt mit der Frage: Geht da auch die Bahn?

Ein Vormieter hinterließ seinen Grünkohl-Detox-Smoothie

Der ÖPNV vollendet das Carsharing-Prinzip. Ich habe das Switchh-Paket beim HVV für 8,90 Euro im Monat gebucht, bekomme dafür je 20 Freiminuten bei Drive Now und Car2Go und die überlegene Möglichkeit, auf immer freien Parkplätzen direkt an den HVV-Haltestellen parken zu können. Ich verwende die Bahn antizyklisch, pendle zur Arbeit aus Hamburg raus und zum Feierabend zurück. Die Bahn ist da relativ leer, man könnte das ideal nennen. Denn wenn auch kein Misanthrop, so bin ich doch kein Freund des zu engen Kontakts zu Hinz und Kunz, fürchte die Bier-Zigaretten-Fahne des Mitfahrers und hadere damit, dass der Gebrauch von Deodorant und anderen Körperpflegeprodukten offenbar immer noch nicht weit genug verbreitet ist.

Trotz allem freue ich mir aber regelmäßig ein Loch in den Bauch, wenn ich mit der Bahn an den Staus in der Innenstadt vorbeirausche, auf dem Ohr die Neue von Death Cab for Cutie, auf dem Schoß gute Literatur. Ich habe sie in den letzten drei Jahren in der Bahn seitenweise in mich aufgesogen, darunter Haruki Murakamis „1Q84 (1&2)“, Tom ­Wolfes „Back to Blood“ oder Garth Risk Hallbergs „City on Fire“, also Bücher, die man kaum tragen kann, geschweige denn abends im Bett nach der Arbeit gelesen bekommt. In der Bahn, wach und ausgeschlafen: 30 bis 40 Seiten je Fahrtrichtung.

Ich gestehe aber: Busfahren ist nicht meins, und würde ich öfter den Bus nehmen müssen, würde meine Carsharing-Welt gehörig ins Wanken geraten, in etwa so sehr wie der vollgestopfte Gelenkbus der Linie 5 zur Stoßzeit. Der Albtraum der letzten drei Jahre: wochenlang Schienenersatzverkehr zwischen Langenhorn-Markt und Ochsenzoll.

Es riecht nach ausgezogenen Schuhen

Das Carsharen bedingt auch eine gewisse Duldsamkeit mit den Marotten und Unarten der Mitmenschen. Kürzlich las ich eine flapsige Wortmeldung in einem Mädchen-Magazin der aufgeregten Sorte. Da verunglimpfte die Autorin das Carsharen als „unglam“, weil es in den Autos immer nach ausgezogenen Schuhen rieche und jemand in die Lüftungsschlitze Cheeseburger gedrückt habe. Ich hatte einmal in drei Jahren zwei Veggieburger im Handschuhfach eines Car2Go-Smarts. Das ist der mit 26 Cent pro Minute günstigste und entsprechend bei den erlebnisorientierten Fahranfängern und anderen geistig Junggebliebenen beliebteste Wagen. Man merkt, die machen Party und pfeifen auf die Regeln – extrem nervig, aber selten. Schlimmer sind die Raucher, die im Mercedes GLA über das „Rauchen verboten!“-Schild in die Mittelkonsole aschen. Die Hundebesitzer, die ihren Jiffel den Beifahrersitz vollhaaren lassen. Die Agentur-Hipster, die ihren Grünkohl-Detox-Smoothie und den Becher mit der Double-Schnickschnack-irgendwas-Latte halb ausgesuckelt im Mini-Fußraum verewigen. Eltern, die dem Nachwuchs das komplette Vollkrümeln der Rücksitze gestatten. Oder Hobby-Spediteure, die Limousinen zu Transportern umbauen und nach der Fuhre nicht zurückbauen.

Alle denkbaren Fehler

Doch viel erstaunlicher ist, dass ich in drei Jahren in etwa 80 Prozent der Fälle in sauberen Mittel- bis Oberklasse-Wagen saß, die kaum ein paar Tausend Kilometer auf dem Tacho hatten und in denen es sogar noch nach neuem Auto roch. An dieser Stelle einfach mal ein pauschales Lob an die Service-Leute der beteiligten Unternehmen.

Alle denkbaren Fehler im Umgang mit den Autos wurden kulant geregelt. Ich vergaß schon zweimal meine komplette Existenz in einem Wagen, also Geld, Ausweis, Kreditkarten, Führerschein, Bonus-Karte vom Kaffeekontor – die wichtigsten Dinge eben. Die Anbieter rufen dann nicht etwa den Nachmieter des Wagens an, um mal eben nachzufragen, ob das Etui da noch liegt. Datenschutz! Außerdem wollen die niemanden erst auf die Idee bringen. Was sie aber tun: Sie sperren den Wagen, sobald er frei ist. So konnte ich hinfahren und schauen. Und jedes Mal hatte der Nachmieter bereits Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mich zu finden. Selbstredend fehlte kein Euro, und Finderlöhne wurden abgelehnt. Die meisten Carsharer sind gute Menschen.

Drei Jahre erprobt

Zweimal scheiterte ich aus unerfindlichen technischen Gründen daran, ­Drive-Now-Wagen ordentlich abzumelden. Gefühlt hatte ich das über die App getan, in Wahrheit blieben sie auf meinen Namen über Stunden gebucht und im Parkmodus stehen. Was dazu führte, dass ich in einem Fall für eine Kurzfahrt plötzlich eine Rechnung von 357 Euro, im anderen Fall eine über knapp 60 Euro bekam. Und obwohl ich das erst Wochen später überhaupt bemerkte, wurden mir beide Rechnungen ohne viel Aufhebens auf die tatsächliche (und technisch nachvollziehbare) Fahrleistung reduziert und die Differenzbeträge erstattet.

Bleibt noch die Frage nach Schäden oder Unfällen. In drei Jahren Carsharing spielte sie für mich keine Rolle. Vor jedem Einsteigen in ein Auto soll der Nutzer den Wagen auf Schäden kontrollieren. Ich gestehe, dass ich das höchstens oberflächlich tue – so wie offenbar alle anderen auch. Das birgt die Gefahr, dass neue Schäden von Fahrer zu Fahrer weitergegeben werden. Wenn jedoch keiner den Schaden meldet, ist die Suche nach dem Verursacher sinnlos. Ich habe bei allen Anbietern einen Selbstbehalt zwischen 250 und 1000 Euro, wenn ich einen Schaden oder Unfall verursache. Ich könnte mich davon freikaufen, doch ich zögere und setze auf defensive, vorausschauende Fahrweise. Was erst dann ein Fehler wäre, wenn es gekracht hat.

Was wird aus den Prozenten der alten Versicherung?

„Alles schön und gut“, hakte der gute alte Freund nach, der sich meine Geschichte stumm und unter Einnahme diverser Biere angehört hatte. „Aber was ist mit deinen Prozenten aus der alten Auto-Versicherung?“ Er glaubte jetzt wirklich, einen Knackpunkt gefunden zu haben. „Kauf dir doch irgendein Mofa und lass die Versicherung weiterlaufen, sonst fällst du zurück auf 100 Prozent, wenn du wieder ein Autos kaufst!“ Er hatte es immer noch nicht verstanden. Unter Stoßseufzern erklärte ich ihm, dass Schadensfreiheitsklassen von den Versicherern anstandslos auch nach Jahren noch akzeptiert werden und manche sogar die Carsharing-Jahre anrechnen.

Dann bereitete ich mich genüsslich auf den Todesstoß für seine automobile Argumentation vor. „Ich werde in diesem Leben sowieso kein Auto mehr kaufen. Die Autobauer werden ihre Wagen irgendwann nur noch vermieten. So wie Volvo“, sagte ich. Er zog die Augenbrauen hoch. Das war zu viel für ihn. „Schwätz kein’ Scheiß! Ich fahr dich jetzt nach Hause! Hier bei uns gibt’s kein Carsharing. Oder willst du laufen?“ Er rief nach der Bedienung. „Ich zahle! Alles zusammen.“

Ach ja: Seit er das mit dem Carsharen von mir weiß, besteht er immer darauf, mich einzuladen – mich armen, autolosen Schlucker.