Hamburg. Der Ausstieg auf Zeit wird für einen 55-Jährigen und seine Familie zu einem Drama. Seine Yacht kentert. Torsten G. geht über Bord.
Die Bilder hat seine Mutter noch auf dem Handy. Die „Godewind“, eine stolze Segelyacht von rund zwölf Metern Länge, fährt unter der Rügenbrücke gen Westen. An Bord ihr Sohn Torsten und sein langjähriger Freund. Die beiden verwirklichen sich einen lang gehegten Traum: Sie wollen auf Zeit aussteigen, haben Sonderurlaub genommen, vor ihnen liegen zwei Monate ohne Termine, nur mit Wind, Wellen und Wasser. Am Horizont dieses warmen 30. Juni geht die Sonne unter, in diesem vermeintlichen Jahrhundertsommer. Nach Schweden, Finnland, Sankt Petersburg soll die Reise führen – und dann über das Baltikum zurück in den Heimathafen.
Nicht einmal zwei Monate später sitzen Torstens Eltern, seine Frau Ines, seine Tochter und sein Bruder Lars in einem Stralsunder Wohnzimmer und verstehen die Welt nicht mehr – und nicht ihr Land. Ihr Sohn, Ehemann, Vater, Bruder ist seit dem Mittag des 12. August vermisst. Aber Hilfe bekommen sie nicht, keine Behörde fühlt sich zuständig, kein Amt hilft, kein Ermittler recherchiert. Ein Mensch geht von Bord, und keiner fühlt sich zuständig. Ein Mensch verschwindet, und nichts passiert.
„Eine solche Nacht habe ich noch nie erlebt“
Die Hinterbliebenen – selbst dieser Begriff ist nicht mit letzter Gewissheit klar – sind verzweifelt und allein. „Wir haben Tag 15 nach diesem schrecklichen Ereignis. Bei uns hat sich bis heute keiner gemeldet“, sagt Lars G., für den Torsten nicht nur Bruder, sondern auch der beste Freund ist. „Ich dachte, wir leben in einem gut organisierten Rechtsstaat. Bei jedem Auffahrunfall kommt die Polizei, und wenn ein Mensch unter ungeklärten Umständen verschwindet, interessiert das niemanden. Wir hören immer wieder nur: ‚Wir sind nicht zuständig.‘“
Denn das Drama auf der „Godewind“ findet zwar auf der viel befahrenen Ostsee statt, aber im Grenzgebiet zwischen Polen und der russischen Exklave Kaliningrad, dem früheren Königsberg. Hier sind deutlich weniger Segler unterwegs als in den schwedischen Schären, der dänischen Südsee oder der deutschen Ostsee. Den Freunden auf der „Godewind“ haben der Traumsommer und Flauten so manches Ziel verhagelt. Sowohl Helsinki als auch Sankt Petersburg bleiben unerreichbar, am Mittwoch machen die beiden im litauischen Klaipeda fest.
Wind soll ungünstig wehen
Sie bleiben bis Sonnabend im Hafen, weil Flaute herrscht. Ihr nächstes Ziel ist 110 Seemeilen entfernt und liegt auf der polnischen Halbinsel Hel. Ein gewaltiger Schlag auch für Segelprofis – und der vorhergesagte Wind soll ungünstig wehen. In einer SMS an die Familie schreibt Torsten: „Jetzt planen wir unsere Rückfahrt. Der Wind bläst mächtig gegen an.“ Und in einer anderen: „110 Seemeilen können schnell 220 werden – wird etwas viel“, simst er. Ein letztes Lebenszeichen schickt er am Freitag um 22.33 Uhr an seine Frau Ines. „Morgen lange Tour nach Hel“ – und einen digitalen Kuss. Die beiden sind seit zwei Jahren verheiratet. „Er hat erst spät sein Liebesglück gefunden und war mit Ines so glücklich“, sagte sein Bruder Lars. „Das hat er mir immer wieder gesagt, es so oft betont.“ An anderer Stelle hat ihn das Glück verlassen.
Am Sonnabend brechen die beiden Segler in Klaipeda auf. Der Wetterbericht ist schlecht, ein Tiefdruckgebiet zieht auf, sechs bis acht Windstärken sagen die Meteorologen vorher. Acht Windstärken schafft die „Godewind“, ist der Skipper, der Freund von Torsten, überzeugt. Wenn die Sonne strahlt, scheint jedes Unwetter weit entfernt. Die ersten Stunden ihrer langen Reise, so dokumentiert es das Logbuch, müssen sie den Motor anwerfen, erst am Nachmittag frischt der Wind auf.
Bald nimmt das Drama seinen Lauf. Am Abend, es ist 21 Uhr, segeln sie auf die erste Unwetterfront zu, sie können sie noch umfahren. Doch die Freude währt nur kurz, weil weitere folgen. Die zweite Gewitterfront streift sie, die dritte erwischt sie voll. „Vor uns eine rabenschwarze Wand, der Himmel schwarz“, wird der Skipper der Familie später erzählen. Er selbst möchte gegenüber dem Abendblatt nichts sagen, hat aber ein Gedächtnisprotokoll verfasst.
Wellen türmen sich fünf bis acht Meter hoch
Blitze durchzucken die Nacht, der Wind steigert sich stetig. Das Logbuch hält in seinem letzten Eintrag am 12. August um 0.30 Uhr fest: neun Windstärken aus Südwest. In der Nacht, so ergeben die Recherchen der Familie, werden es sogar zehn bis elf werden. „Eine solche fürchterliche Nacht habe ich noch nie erlebt“, wird der Skipper später sagen. Sie segeln durch eine Gewitterfront, durch Hagel, durch Regen, sie können die Wellen, die das Boot peitschen, nicht sehen. Die ganze Nacht verbringen die Freunde an Deck.
Erst in der Morgendämmerung wird deutlich, welche Gewalten auf die „Godewind“ einprasseln; die Wellen türmen sich fünf bis acht Meter hoch. Kurz überlegen die beiden, ob sie im nächstgelegenen russischen Hafen Schutz suchen sollen – ein Funkspruch des Skippers gegen 10.30 Uhr bleibt jedoch unbeantwortet. Also halten sie an ihrem Ziel fest, nach Hel zu segeln.
Enormer Brecher trifft das Schiff
Immerhin: Die Nacht ist überstanden, unter die Erschöpfung mischt sich leise Euphorie durch den anbrechenden Tag. Der Kurs passt, 32 Seemeilen bis Polen, das scheint machbar. Der Skipper bereitet unter Deck etwas zu essen vor, oben steht Torsten am Ruder. Ein Brecher löst bei ihm die Rettungswestenautomatik aus. Danach wechseln die beiden ihre Position – und das Verhängnis nimmt seinen Lauf: Offenbar weil ihn die Weste behindert, löst er sie unerklärlicherweise unter Deck und kehrt nach oben zurück.
Kurze Zeit später – so heißt es im Gedächtnisprotokoll des Skippers – trifft ein enormer Brecher die „Godewind“ und bringt sie zum Durchkentern.
Dem Skipper gelingt es, sich unter Wasser am Achterstag, einem dünnen Drahtseil, festzuklammern. Als sich das Schiff nach wenigen Sekunden wieder aufrichtet, kann er aus drei Metern Höhe auf Deck rutschen. Torsten aber geht über Bord. Als der Skipper ihn entdeckt, schwimmt er schon 20 Meter ohne Rettungsweste hinter dem Schiff. Auf Deck herrscht Chaos und Zerstörung, die Spritzhaube ist zerschmettert, nur eine der Rettungskragen ist noch an Bord. Der Skipper fährt mehrere Rettungsmanöver, ohne Erfolg.
Schlechtes Gefühl
Torsten kann die Schwimmleine nicht erreichen, dann verfängt sich eine andere Leine im Propeller. Bald sieht der Skipper nur noch das rote Ölzeug seines Freundes im Wasser. Gegen 11.30 Uhr funkt er SOS. Gut drei Stunden später nimmt das russische Forschungsschiff „Akademik Boris Petrov“ den Überlebenden der „Godewind“ an Bord. Obwohl Hubschrauber und Schiffe aus Polen und Russland bald am Unglücksort eintreffen, bleibt der Vermisste verschwunden.
Derweil sitzt die Familie im heimischen Stralsund mit einem Gefühl, das sich von Stunde zu Stunde verschlechtert. Torstens Eltern hatten auf einer Karte den Weg der „Godewind“ über Wochen verfolgt, der Segler hielt die Daheimgebliebenen regelmäßig mit Bildern, Botschaften und Anrufen auf dem Laufenden. Seit Freitag aber ist plötzlich Funkstille. Die Sorgen wachsen. Auf einem Radarbild im Internet hat seine Ehefrau gesehen, was sich dort im Osten zusammenbraut. Als um 17.30 Uhr das Telefon klingelt, erfährt sie von der Frau des Skippers, das etwas Schlimmes passiert ist. Mann über Bord. Ihr Mann. Und von einem Moment zum anderen sind alle Gewissheiten dahin.
Keiner fühlt sich zuständig
Die Familie versucht in Erfahrung zu bringen, was passiert ist. Lars G. übernimmt die Recherchen, sein Arbeitgeber stellt ihn frei. Er telefoniert mit der russischen Botschaft in Moskau und wird an das Generalkonsulat in Kaliningrad verwiesen. Dort stellt man im Normalfall verlorene Reisepässe aus; helfen sollen lieber die Rettungskräfte vor Ort. Mit ihnen ist aber jede Kommunikation schwierig, ihre einzige Botschaft: Es gibt nichts Neues. Erschwerend kommt hinzu: Der Unglücksort liegt genau im polnisch-russischen Grenzgebiet – die Zuständigkeiten wechseln. Am Dienstagmittag wird die Suche eingestellt.
Damit ist für die meisten die Arbeit erledigt. Wenn auf einem Kreuzfahrtschiff eine britische Stewardess im Mittelmeer über Bord geht, berichten manche Medien tagelang. Wenn einen deutschen Staatsbürger auf der Ostsee dasselbe Schicksal ereilt, fühlt sich keiner zuständig. Nur die russische Nachrichtenagentur Tass vermeldet das Unglück auf einer deutschen Yacht nordwestlich von Königsberg.
Eine deutsche Rettungsmaschinerie, eine Hilfe für die traumatisierte Familie kommt hingegen nicht in Gang. Ganz im Gegenteil: „Es passierte nichts mehr“, sagt Lars G. „Ich musste im Internet zusammengoogeln, wer helfen kann.“ Er geht zur Polizei und stellt eine Vermisstenanzeige. Erst Tage später bekommt er überhaupt eine Vorgangsnummer. Die Bundesstelle für Seeunfalluntersuchungen in Hamburg erklärt sich zunächst für nicht zuständig, prüft inzwischen aber auf Rückfrage des Abendblatts „im Rahmen einer Voruntersuchung“, ob eine Unfalluntersuchung eingeleitet wird.
Bei Rescue in Bremen konnte man Lars G. nur sagen, dass die Russen keine Infos geben. Und bei der Bundespolizei in Neustadt, die angeblich solche Fälle übernimmt, vertröstet man den Bruder und verspricht einen Rückruf, der nie kommt. „Die Bundespolizei See ist nicht in die Bearbeitung des Vermisstenvorganges, der Seeunfalluntersuchung sowie strafrechtlicher Überhänge, sofern hier welche vorlägen, involviert“, sagt der Sprecher der Bundespolizei. „Nach unserem Kenntnistand wird der Vermisstenfall durch die Kripo Stralsund bearbeitet.“ Das Unglück ist offenbar so selten, dass niemand weiß, was zu tun ist. Weder die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger noch der Deutsche Segler-Verband kennen überhaupt Fallzahlen.
Jeder Unfall wird dokumentiert, dieser nicht
Lars G. wird tagelang vertröstet und weitergeschickt. Selbst ein Seelsorger ist kaum zu bekommen. Über das Internet erreicht Lars G. einen Notfallhelfer, der im Urlaub weilt und ihn an die Leitstelle der Feuerwehr verweist, erreichbar unter 112. Dort ist man überfordert und verspricht einen Rückruf. Der kommt – aber der vermeintliche Experte entpuppt sich als Sozialarbeiter. Lars G. findet schließlich die Nummer einer Krankenhausseelsorgerin im Internet, die rasch zur traumatisierten Familie kommt. Ein kleiner Lichtblick im Chaos.
Wo keiner zuständig ist, kommen auch keine Ermittlungen in Gang. „Ich musste betteln, dass ich endlich bei der Polizei vernommen werde“, sagt Lars G. Er fährt auf eigene Faust nach Danzig, wo die „Godewind“ inzwischen hingeschleppt worden ist. Dort kann Lars G. die persönlichen Gegenstände seines Bruders auf dem havarierten Boot suchen. Ermittlungen finden nicht statt. „Das Boot wird nicht versiegelt, sondern gleich repariert. Das ist doch seltsam“, sagt der Vater von Torsten. Die Familie hat viele offenen Fragen und bekommt keine Antworten.
Familie stützt sich gegenseitig
Wieso hatte der Segler keine Rettungsweste angelegt, wo er doch stets sogar bis zum Spott seiner Freunde auf Sicherheit bedacht war? Vor allem aber: Warum gibt es kein Interesse an seinem Verschwinden? „Jeder kleinste Seeunfall findet seinen Weg ins Internet – und hier verschwindet ein Mensch ohne Reaktion. Warum gibt es keine Aufklärung? Es muss doch eine Stelle geben, die den Unfall untersucht“, sagt Lars G.
Immerhin hat er nun einen Termin bei der Polizei, die der Familie Hoffnung macht, dass sich etwas bewegt. Lars G. verbringt weiter seine Zeit damit, Informationen zu bekommen. Und Hilfe. Die Familie stützt sich gegenseitig, gibt sich Mut und Kraft. „Wenn wir Lars nicht hätten, würden wir hier alle ratlos sitzen und darauf warten, dass jemand klingelt“, sagt die Frau des Vermissten. „Aber niemand klingelt.“ Sie macht sich Sorgen, dass ihr das Warten irgendwann zum Nachteil gereichen wird. „Was soll ich tun, was soll ich machen? Wo muss ich mich melden?“ Beim Finanzamt riet ihr der Beamte, sie solle das Problem mit ihrem Mann besprechen. Mit einem Vermissten!
Unterstützung von engen Freunden
In diesen schweren Tagen stützt sich Familie G. gegenseitig – und bekommt Unterstützung von engen Freunden. Das Einzige, was ihnen bleibt, ist warten und hoffen. Und SMS, Fotos und verwackelte Videos aus Häfen im Osten. Bunte Bilder von 1400 Seemeilen, bis die Welle kam. Sie erzählen von einem Traum, der sich in einen Albtraum verwandelte und nicht zu Ende gehen mag. Am 31. August wollten die Segler zurück sein.
„Wir waren eine glückliche Familie – bis zu diesem Tag“, sagte seine Mutter. Und ihr Sohn Lars wiederholt eine Frage, die ihn nicht loslässt: „Wo bleibt der deutsche Rechtsstaat, der uns einen Weg weist in dieser schweren Zeit?“