Wacken. Zwischen Ballermann und Bass-Wummern: Beim Wacken Open Air sorgen 75.000 Besucher für den Ausnahmezustand.

Sie nennen ihn den „Metal God“ und seine Band „eine Säule des globalen Schwermetalls“. Als der britische Sänger Rob Halford mit seiner Sirenenstimme und seiner Band Judas Priest am späten Abend die Bühne in Wacken rockt, sein Gitarrist Richie Faulkner mit ekstatischen Soli den Zehntausenden noch einmal pausenlos neue Energieströme verpasst und der Amerikaner Scott Travis am Schlagzeug mit perfektem Doublebass-Spiel für reichlich Speed und Aggressivität sorgt, weiß auch der Letzte, worum es hier jetzt gerade eigentlich geht. Um Musik.

Und die ist härter, schneller und lauter als jede andere tonale Ausdrucksform. Heavy Metal ist für viele über die Musik hinaus eine Lebenseinstellung. Sie kultiviert das Anderssein, kennt keine Ideologien, pflegt Rituale, verbietet Ausgrenzung, macht Lärm. Und verändert, ganz nebenbei, jedes Jahr für drei Tage ein kleines Dorf in Schleswig-Holstein.

Wacken ist der Wahnsinn

Um zu verstehen, was in dem 1800-Einwohner-Dorf knapp 20 Kilometer nördlich von Itzehoe in den vergangenen 29 Jahren passiert ist, muss man kurz an einen Sonntag im Herbst 1989 erinnern. Holger Hübner, Mittelstürmer, und Thomas Jensen, Rechtsaußen beim TSV Wacken, saßen nach dem Spiel im Landgasthof Zur Post. Ihr gemeinsamer Kumpel Norbert schlug nach einigen Bierchen vor, ein eigenes Open Air Festival auf die Beine zu stellen. Im Sommer 1990 startete das W.O.A. mit sechs Bands in der „Kuhle“. An zwei Tagen kamen 800 Besucher, der Eintritt kostete 12 Mark. Der Strom kam von der Raiffeisenbank, für die Sicherheit sorgte ein Freund mit seinem Hund. Gespielt wurde auf einer selbst gezimmerten Tribüne.

Viele der 75.000 Besucher aus der ganzen Welt suchten unter den urigen Duschen bei den heißen Temperaturen immer wieder eine Abkühlung
Viele der 75.000 Besucher aus der ganzen Welt suchten unter den urigen Duschen bei den heißen Temperaturen immer wieder eine Abkühlung © Getty Images

Heute ist Wacken der Wahnsinn. Neben dem Dorf entsteht für drei Tage eine mittelgroße Stadt wie Cottbus oder Gütersloh. Es gibt Wacken Radio, Wacken TV und eine tägliche Wacken-Festival-Zeitung. Es gibt eigene Supermärkte und ein Polizeicamp, Seelsorger und Sanitäter, EC-Automaten und Müllabfuhr, Fußballplatz und Freiluftkino, Gastro und Gaming Area, einen Gottesdienst zum Auftakt und Touristen aus aller Welt.

Staubwüsten statt Schlammbäder

Wo sonst Kühe grasen, stehen auf einer Fläche von 240 Hektar (zur ­Erinnerung: ein Hektar, das sind stolze 10.000 ­Quadratmeter) das Wacken Village und die Wacken Plaza, der Metal Markt und das Wacken Center, der Beer­garden und das Wasteland. Es gibt Piercing und Pizza, Crêpes und CD, Shirts und ­Schädelbrause. Beim großen Bier­vernichtungstreffen hilft neuerdings die ein Kilometer lange Bier-Pipeline, die vor einem Jahr erstmals zum Einsatz gekommen ist. Der Durst ist gewaltig.

Wacken in Zahlen

Kein Wunder, bei stundenlangen Temperaturen um die 30-Grad-Marke. Und das an einem Ort, der traditionell gern im Schlamm versinkt. Legendär sind die „No rain, no rain“-Rufe beim Woodstock-Festival vor 49 Jahren. In Wacken ist das diesmal eher eine traurige Feststellung: weit und breit no rain. Staubwüsten statt Schlammbädern. Überall stehen Besucher unter Wasserduschen, das Verb „sich nass machen lassen“ bekommt hier plötzlich eine sehr spielerische Bedeutung.

Daniel Günther
(CDU, r.), Ministerpräsident
von
Schleswig-Holstein,
und Dierk
Schmäschke, Manager
des HandballBundesligisten
Flensburg Handewitt,
machen ein
Selfie
Daniel Günther (CDU, r.), Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, und Dierk Schmäschke, Manager des HandballBundesligisten Flensburg Handewitt, machen ein Selfie © dpa

Natürlich ist Wacken auch Folklore. Mancher aber fragt sich mittlerweile, wo die Musik bleibt. „Für mich war ­Wacken in den letzten Jahren zu viel Ballermann“, hat auch Thomas Jensen gesagt. Das sei aber zurückgeschraubt worden. Und die Marschrichtung laute jetzt: „Weniger Ballermann.“

Betontod und Kellermensch

Noch überwiegt eindeutig die ­Musik. Die Bands heißen Betontod und Kellermensch, Destruction und Steel Panther, End All und In Extremo. Bruce Dickinson von Iron Maiden, mit rund 100 Millionen verkauften Tonträgern eine der kommerziell erfolgreichsten Metalbands weltweit, hat einst gesagt, es gebe nur zwei Kategorien von Musik: „Metal und Bullshit.“

Die besten Bilder vom Wacken Festival 2018

Das ist natürlich Bullshit. Und zwar auch deshalb, weil Dickinson vor 40 Jahren nicht einmal im Ansatz ahnen konnte, wie viele Kategorien allein der Metal noch kreieren würde. Neben dem Heavy Metal gibt es mindestens noch Black und Death, Folk und Thrash, ­Power und Gothic, Symphonic und ­Groove, Speed und Viking Metal. Der Trend geht zu mehr. Auch durch diese musikalische Öffnung – Schwermetaller sind nicht nur kreativ, sondern auch äußerst tolerant – ist Wacken immer noch mit Wachstum gleichzusetzen.

Rob Halford, Sänger der britischen Heavy-Metal-Band Judas Priest, bei seinem Auftritt auf der Harder Stage beim Wacken Open Air
Rob Halford, Sänger der britischen Heavy-Metal-Band Judas Priest, bei seinem Auftritt auf der Harder Stage beim Wacken Open Air © dpa

Im weitesten Sinne ist ja auch Mambo Kurt ein Metaller. Der ältere Herr an der Heimorgel eröffnete auf der Beergarden Bühne traditionell das Festival mit „Jump“ von den amerikanischen Hard-Rockern Van Halen. Ein kolossales Vergnügen, das die meist schwarz-gekleideten Metaller jeden Alters schon um 12.30 Uhr von den Bierbänken riss oder auf die Tische steigen ließ. Das Festival hat genügend Platz für schräge Vögel, zu denen auch Otto gezählt werden darf, der mit seinen Friesenjungs in der Nacht zum Sonnabend erstmals in Wacken aufspielen durfte.

Nachwuchs wird gefördert

Damit Wacken die Metaltown in Deutschland bleibt, kümmern sich die Macher auch um musikalischen Nachwuchs. 28 Finalisten traten an zwei Tagen beim W.O.A.-Metal-Battle auf. Die noch unbekannten Bands aus Deutschland und der Schweiz, Frankreich und Italien, Rumänien und Bulgarien, Singapur und Surinam wurden nach ihren 20-minütigen Auftritten von den Fans gefeiert. Manche Combos waren mit ihrem Equipment drei Tage im Auto unterwegs. Eurobia aus Bulgarien verreckte kurz vor dem Ziel auf der Autobahn. „Aber ein Trucker hat uns geholfen“, sagte der Drummer Blago Vest.

Da sind Vogelfrey mit ihren druckvollen Titeln und frischen deutschen Texten schon einen Schritt weiter. Mit ihren Songs wie „Abgesang“ oder „Hörner hoch“ bringen die Hamburger die Massen zum Tanzen. Ihr Genre: Mit­telalter-Metal. Womit wohl noch nicht alle Metaller etwas anfangen können. „Wie jetzt, Mittelalter?“, fragt einer. „Das ist Metal, Alter“, wird er belehrt. Geht doch.