Hamburg. Befehl kam von Stalin: ein Militärprojekt im Jasmunder Bodden zu bauen. Werften hätten die Dimension des Hamburger Hafens gehabt.

Die Ansage des großen Führers in Moskau war unmissverständlich: Die DDR müsse „ohne Geschrei“ eine Armee aufbauen. Wilhelm Pieck, Präsident der DDR, und Otto Grotewohl, Vorsitzender der SED, hörten ehrfürchtig zu, als der Diktator ihnen am 1. April 1952 in Moskau die neue Strategie in den Satellitenstaaten der Sowjetunion diktierte. Auch die DDR habe sich sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nun für den Kalten Krieg zu rüsten – zu Lande, in der Luft und zu Wasser. Damit gab Moskau das Startsignal für ein bis heute weitgehend unerforschtes gigantisches Flottenprojekt: den Rügenhafen im Jasmunder Bodden für Kriegsschiffe, Werften und zwei neue Städte für 130.000 Menschen.

Ost-Berlin folgte pflichtbewusst im Frühjahr 1952 der Anweisung Stalins und begann mit den Planungen. Im Militärarchiv des Bundesarchivs in Freiburg/Breisgau liegen der Termin- und Kostenplan für das Projekt, das eine Bauzeit von elf Jahren haben sollte. Nüchtern listeten die Projektplaner zunächst die Einzelheiten für den neuen Flottenstützpunkt im Bodden mit Kanal zur Ostsee auf. Der hätte die beliebte Ferieninsel für immer radikal verändert. Gleichzeitig wurde schon in der ersten Planungsphase klar, dass das Projekt die DDR hoffnungslos überforderte. Dort, wo heute der kleine Badeort Glowe mit dem schlichten Slogan „Sonne – Strand und Meer“ Touristen anlockt, wollte der gerade mal drei Jahre alte Arbeiter-und-Bauern-Staat den Kanal zwischen Ostsee und Boddenhafen bauen.

Gigantomanie kannte keine Grenzen

1,53 Milliarden Mark hätten allein die neuen Werften gekostet. Ihre Kapazitäten hätten denen der Stadt Hamburg im Jahr 1939 entsprochen oder sie sogar noch übertroffen. Zum Rügenhafen sollten außerdem Kasernen, Flugplätze und Fähren, Depots sowie ein weiterer neuer Hafen mit unterirdischen Lagern in Lietzow gehören. Bis 1963 wollte die Regierung außerdem zwei neue Städte für insgesamt 130.000 Menschen errichten.

Die Gigantomanie kannte keine Grenzen. Die komplett neuen Orte waren im idyllischen Osten der Insel geplant: die sogenannte Friedensstadt für 100.000 Menschen, die andere für 30.000. S-Bahnen sollten die Menschen zum Arbeitsplatz am Nord- und Südhafen fahren. Die meisten Bewohner konnten – so die Planung – in maximal 20 Minuten zu Fuß den Arbeitsplatz erreichen. Der Autoverkehr sollte „flüssig“ über Hochstraßen rollen. Um die „maximale Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse“ der Bewohner sicherzustellen, sah die Projektleitung vor, bereits in den ersten Baujahren Theater, Kultur- und Warenhäuser zu errichten. Darüber hinaus sollten Erholungsgebiete inklusive Strand bei Prora und einen Segelsporthafen geschaffen werden. Auch an den Luftschutz hatten die Projektplaner gedacht, ohne allerdings konkrete Kosten vorzulegen.

Geheimname „Projekt C320“

Für das gigantische Projekt mit den Geheimnamen „Projekt C320“ oder „Bauvorhaben Nord“ übernahm das Innenministerium die Regie, eine offizielle Armee und ein Verteidigungsministerium existierten in der jungen DDR noch nicht. Die Staatssicherheit war für den Schutz vor Agenten verantwortlich.

Um das Baumaterial für den Rügenhafen zu beschaffen, sollten neue Werke in Barth, Greifswald, Anklam und anderen Orten der DDR entstehen. Die Reichsbahn ging von 7,4 Millionen Tonnen pro Jahr aus, die sie zu den Baustellen transportieren musste. Um diese Massen bewältigen zu können, rechneten die Eisenbahner vor, dass sie neben dem Rügendamm zwei weitere Brücken über den Strelasund benötigen. 540 Kilometer neue Bahnstrecken und 5000 zusätzliche Waggons waren nach den Berechnungen erforderlich. Auch in der übrigen DDR musste die Reichsbahn-Infrastruktur ausgebaut werden, um die „Durchlassfähigkeit“ zu erhöhen.

Fachlich betrat die DDR Neuland

Die Dimensionen des Projekts schienen der Regierung bewusst zu sein. „Die hier geplante umfangreiche Produktion und außerordentlich großen Bauleistungen werden nur dann durchgeführt werden, wenn durch eine rasche Entwicklung einer höchstmöglichen Produktivität in Verbindung mit dem zu erreichenden Höchststand der Technik mit dem zurzeit noch bestehenden Stadium der Improvisation und der teilweise unorganisierten Arbeit energisch Schluss gemacht wird“, heißt es im Beschluss der Regierungskommission.

Der materielle Aufwand hätte unvorstellbare Ausmaße angenommen. Die bewegliche Brücke über den Kanal hätte eine Spannweite von 140 bis 180 Metern gehabt – damals weltweit ein Projekt ohne Vorbild. Allein für den Bau der Molen wären etwa 120.000 Tonnen Zement, 130.000 Tonnen Split und 300.000 Tonnen Kies erforderlich gewesen. Für die Verlegung der Molensteine hätte die DDR Kräne mit einer Tragfähigkeit von 60 Tonnen und einem Ausleger von zwölf Metern entwickeln und bauen müssen. Fachlich betrat die DDR offenbar Neuland: Eine Regierungskommission beschloss am 13. März 1953, zunächst einmal Fachbücher über Bauverfahren wie Druckluftgründungen oder chemische Verfestigungen zu beschaffen, um danach die Arbeitsverfahren zu entwickeln.

Das Repro eines
Fotos der
Ortschronistin
Gertrud Andresen
zeigt eine Aufnahme
des Bauarbeiterlagers
in Glowe
aus dem Juni 1953
Das Repro eines Fotos der Ortschronistin Gertrud Andresen zeigt eine Aufnahme des Bauarbeiterlagers in Glowe aus dem Juni 1953 © ullstein bild

Hinzu kamen die extrem ehrgeizigen Pläne für den Aufbau der Flotte. Bis Ende der 50er-Jahre war der Bau von 139 Kampfschiffen und 175 Unterstützungseinheiten zur See vorgesehen. Den Schwerpunkt innerhalb der Marine sollten Schnellboote, U-Boot-Jäger, Minenräumer und U-Boote bilden. Allein zwischen 1954 und 1958 wollte die Regierung in Ost-Berlin 800 Millionen Mark in zehn Küstenwachschiffe, 36 Schnellboote, 55 U-Boot-Jäger und 14 U-Boote investieren. Der Rügenhafen sollte Hauptstützpunkt der DDR-Flotte werden. Den Einsatz schwerer Marineschiffe behielt sich die sowjetische Flotte vor.

Mehr als 200 Familien wurden umgesiedelt

Der Oberkommandierende der sowjetischen Streitkräfte in der DDR, Wassili Iwanowitsch Tschuikow, soll am 7. Mai 1952 den Standort am Bodden inspiziert und für geeignet befunden haben. Das war die Geburtsstunde des „Sonderbauvorhabens Glowe“, die Bauarbeiten begannen noch im selben Jahr. Ende 1952 wies die sowjetische Kontrollkommission das DDR-Innenministerium an, Material und Arbeiter für den neuen Stützpunkt bereitzustellen.

Glowe hatte Anfang der 50er-Jahre 1400 Einwohner, die sich über acht Orte verteilten. Im Hauptort lebten 650 Menschen. Die meisten arbeiten in einem Fischkombinat oder bei der Bauunion in Sassnitz. Mehr als 200 Familien wurden für das Projekt kurzerhand umgesiedelt. Die Behörden erklärten das Baustellengelände zum Sperrgebiet. An den Zufahrten standen Schlagbäume. Volks- und Grenzpolizei sowie die sowjetischen Besatzer richteten weitere Kontrollstellen bei Lietzow und am Rügendamm ein.

Arbeiter lebten in großen Barackenlagern

Im Beschluss der DDR-Regierung über den „Neubau einer sozialistischen Großwerft auf der Insel Rügen“ vom 22. April 1953 wurde unter Punkt 7 der Chef der Hauptabteilung Strafvollzug beauftragt, die Bereitstellung, Unterbringung und Verpflegung von Gefangenen zu gewährleisten. „Die Strafgefangenen sind entsprechend ihrer Qualifikation einzusetzen“, heißt es im Beschluss. Sie sollten zu 80 Prozent der Landarbeiten übernehmen. Bis zu 26.000 Strafgefangene waren für den Einsatz vorgesehen.

Auf der Baustelle waren zu Beginn der Arbeiten unter der Regie des Volkseigenen Betriebs Bauunion Nord und der sowjetischen Besatzungsmacht neben den 10.000 Arbeitern bis zu 5000 Strafgefangene im Einsatz, die gemeinsam einen Aushub von einer Million Kubikmeter bewältigten. Die Arbeiter reisten bis Sagard mit der Bahn, sie lebten in großen Barackenlagern; die Gefangenen wurden im sogenannten C-Lager bei Bobbin einquartiert. Das Gefangenenlager war mit einer dreifachen Stacheldrahtumzäunung sowie einem elektrisch geladenen Mittelzaun gesichert, für den eigens eine Umschaltstation in Glowe gebaut worden war.

„KZ-ähnliche Bedingungen“

Die Häftlinge gaben dem Lager auf Rügen den Namen der entlegenen sowjetischen Pazifikhalbinsel „Kamtschatka“ und bezeichneten sich selbst als „Kamtschatkaner“. Der Historiker Ingo Pfeiffer berichtet von „KZ-ähnlichen Bedingungen“. Er hat von 1989 bis 1991 mit Zeitzeugen gesprochen. Die „Hauptflottenbasis im Jasmunder Bodden“ unterlag der höchsten Geheimhaltung. Nicht einmal jedes Mitglied des DDR-Polit­büros kannte die Einzelheiten. Mancher Arbeiter glaubte, für einen „Handels­hafen Jasmunder Bodden“ oder für das Projekt „Fischereinotschutzhafen und Kanalbau Bodden“ zu arbeiten.

Die Original-Übersichtskarte
für
das gigantische
Vorhaben mit den
Geheimnamen
„Projekt C320“
oder „Bauvorhaben
Nord“
Die Original-Übersichtskarte für das gigantische Vorhaben mit den Geheimnamen „Projekt C320“ oder „Bauvorhaben Nord“ © Pommersches Landesmuseum

Um den Bau geheim zu halten, wies das sowjetische Militär die Deutsche Reichsbahn an, den Eisenbahnfährverkehr auf der „Königslinie“ zwischen Sassnitz und dem Trelleborg zu unterbrechen. In einer Mitteilung an die schwedischen Behörden nannte die DDR zunächst keine Gründe, später schob sie den Bau eines großen Fischereihafens vor. Die Unterbrechung ging als „Sassnitzer Blockade“ in die Regionalgeschichte ein und dauerte vom 4. Oktober 1952 bis zum 16. August 1953.

„Achtet auf Spione und Agenten!“

Trotz der Geheimhaltung drangen Nachrichten über das Bauprojekt in den Westen. Unter der Überschrift „Befestigungen: Lügen auf Rügen“, schrieb am 13. Mai 1953 der „Spiegel“ über die Arbeiten auf der abgeriegelten „sowjetzonalen Ostseeinsel Rügen“. 14.000 Arbeiter seien dort im Auftrag eines sowjetischen Festungsbaustabs damit beschäftigt, bis 1954 einen Kriegshafen im Norden der Insel zu bauen. Offenbar hatten Geheimdienstkreise dem Nachrichten­magazin Informationen zugespielt.

So wusste der „Spiegel“, dass an allen Straßenkreuzungen scheunentorgroße Plakate standen. „Achtet auf Spione und Agenten! Hier wird für die Sicherheit und für die Verteidigung des Friedens gebaut“, soll darauf gestanden haben. „Vopos und Sowjetarmisten halten gemeinsam Wache an improvisierten Stacheldrahtverhauen und spanischen Reitern, die das Sperrgebiet abriegeln“, schrieb der „Spiegel“ weiter. Die Agitatoren der SED verbreiteten laut „Spiegel“ Parolen wie: „Denkt immer daran, daß drüben auf Bornholm die amerikanischen Interventen Flugzeuge für den Überfall auf die größte Friedensmacht der Welt stationiert haben.“

Situation eskalierte

Doch ebenso schnell, wie die Arbeiten für den Rügenhafen begonnen hatten, endeten sie. Am 17. Juni 1953, drei Monate nach Stalins Tod, brach in der DDR der Volksaufstand los. Auch auf Rügen, so berichtet es ein Zeitzeuge, hatten die Werktätigen an diesem Tag die Arbeit niedergelegt. Sie riefen: „Schluss mit der Arbeit! Wir rühren keinen Finger mehr für dieses Kriegsprojekt!“ Die Situation eskalierte, als empörte Arbeiter mittags zum C-Lager zogen, um die Gefangenen zu befreien. Doch dort waren bereits 3000 Volkspolizisten aufmarschiert. Zu ersten Auseinandersetzungen kam es, als Streikende die Villa der Bauleitung stürmen wollten. Zwar verhaftete die Volkspolizei die Anführer, doch die aufgebrachte Menge drang trotzdem in das Gebäude ein und legte Feuer.

Pläne Preußens und der Nazis für Rügen

Wie in allen anderen Teilen der DDR schlugen Stasi, Volkspolizei und sowjetische Armee auf Rügen den Aufstand mit Gewalt und Repressionen nieder. Gleichzeitig setzte sich im SED-Regime jedoch die Erkenntnis durch, dass nicht alle Projekte durchsetzbar waren – auch nicht der Rügenhafen. Am 15. Juli 1953 begann die Auflösung der Baustelle – auf Anweisung der sowjetischen Regierung, die nicht nur den Bau des Rügenhafens stoppen ließ, sondern auch den Aufbau der U-Boot-Flotte der DDR.
Mitarbeit: Luisa Lingelbach