Hamburg. Schleswig-Holstein wählt einen neuen Landtag. Das Abendblatt hat die Spitzenpolitiker beobachtet. Teil 1: Torsten Albig, SPD.
Wenn die schleswig-holsteinische Landtagswahl am Hamburger Stadtrand entschieden wird, wie es Torsten Albig gern erzählt, dann hätte er es zumindest an diesem Tag schwer, seinen Job als Ministerpräsident zu verteidigen. Gerade einmal um die 60 Leute interessieren sich dafür, was der Spitzenkandidat der SPD bei der Wahl am 7. Mai zu sagen hat. Die große Aula des Ahrensburger Schulzentrums am Heimgarten erinnert an eine kleine Arena. Unten in der Manege der Hauptdarsteller, dann aufsteigend auf Treppenstufen in grauem Filz das Publikum. Berufstätige jenseits der 30 und diesseits der 65 sind deutlich in der Minderheit.
Es dominieren: Diejenigen, die mit und in der SPD älter geworden sind. Und jene, die an dieser Schule mitten in den Abiprüfungen stehen dürften. Und der Kandidat? Perfekt gestylt für den Auftritt im Hamburger Umland. Dunkler Anzug, helles Hemd, braune Schuhe, Einstecktüchlein – so hebt sich Torsten Albig vom Einheitsgrau und den leuchtend roten Stellwänden seiner SPD ab. „Mehr Gerechtigkeit für Alle“ steht darauf. Und: „Wir machen das“. Der Name des SPD–Kandidaten auf den Werbetafeln? Fehlanzeige. Stattdessen das Schlagwort, das sich phrasengleich durch den Abend zieht wie auch durch den wochenlangen Wahlkampf: Gerechtigkeit.
Beim Thema Abschiebung wird’s emotional
Mit der „Abteilung Attacke“ seines alten Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel hat der Auftritt Albigs nichts gemein. Hier wirbelt kein „Hau drauf“, hier wütet keiner gegen die Opposition. Der 53-Jährige wirkt besonnen, spricht sachlich und unaufgeregt, gestikuliert ruhig und wohl überlegt immer synchron mit beiden Armen. Mal wirkt es, als wolle Albig sein Publikum zu sich heranziehen, mal öffnet er pastoral die Arme zu einer umspannenden Geste. Selbstbewusst, aber nicht attackierend rechnet der Amtsinhaber mit den „Fehlern“ seiner politischen Gegner ab. Viel lieber aber spricht er über sich und die „gute Arbeit“ seiner Landesregierung, die er gern fortsetzen würde, um das Begonnene zu beenden: „Wenn Sie mich das tun lassen!“
Hier in Ahrensburg menschelt es zwischen der Moderatorin und dem Kandidaten. Kindheitserinnerungen werden hervorgekramt. Albigs Eltern, die Zeit auf dem Gymnasium in Bielefeld, die Schulzeit der eigenen Kinder. Persönliche Themen, die Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen.
Mit den Erinnerungen an die Schulzeit dürfte es vielen Menschen ähnlich ergehen: Die Wirklichkeit wird um jedes Jahr, das vergeht, zurückgedrängt, persönliches Scheitern verblasst, stattdessen erscheint eigene Mittelmäßigkeit beinahe schon als herausragend. Cicero, Goethe, die x-te Ableitung der Differentialfunktion, J.D. Salinger – alles kein Problem, ist das Gymnasium nur lange genug vorbei. Mathematik wird so plötzlich zum Lieblingsfach, Geräteturnen zum Lieblingssport.
Ganz freigemacht haben von nostalgischer Schwärmerei dürfte sich auch Torsten Albig nicht an diesem Abend in der Schule. Er erzählt von der Oberstufe in Bielefeld und von den schönsten schulischen Momenten, die bei ihm aber nichts zu tun hatten mit Seneca oder Kant, sondern mit – Nudeln. Mathematische Formeln habe er vergessen, kochen aber, was er als einer von zwei Jungs neben lauter Mädchen auf einer Hauswirtschaftsschule lernte, die ihn mit dem Leistungskurs Ökotrophologie bis zum Abi brachte, habe er nie verlernt. Er habe, erzählt Albig schelmisch grinsend, mehr Mädchen mit einem „guten Essen als mit Ovid“ begeistern können.
Mit den kämpferischen Auftritten eines Martin Schulz hat Albig nicht nur an diesem Abend wenig gemein. Dafür ist der 53-jährige Vater zweier Kinder zu sehr norddeutsch nüchtern. Mehr Kopf als Bauch. Viel mehr. Wirklich emotional wird’s nur einmal. Warum er gegen die Abschiebung junger Flüchtlinge nach Afghanistan sei, wo doch das von seinem Parteifreund Gabriel geführte Auswärtige Amt Teile des Landes als sicher erklärt habe, wird er gefragt? Und der Kandidat geht dann doch einmal aus sich heraus, schimpft über eine Alibi-Politik, die nur dazu diene am rechten Rand zu fischen. „Aber ich will mich um diese Wähler gar nicht kümmern. Ich will lieber hier den Flüchtlingen helfen“, wird er unter dem Applaus seiner Gäste laut.
Die Wut über diese Abschiebungen, an denen sich Hamburg im Gegensatz zu Schleswig-Holstein beteiligt, ist echt. Statt dem Auswärtigen Amt vertraue er Nichtregierungs-Organisationen, dem Flüchtlingshilfswerk der Uno oder dem Roten Kreuz und ihrer Einschätzung: „Es gibt keine Sicherheit in Afghanistan“, zitiert der SPD-Politiker. Dass das auch die Kirchen so sehen, bestärkt Albig („ich bin gläubiger Christ“) im politischen Handeln.
„Glücklichstes Bundesland der Republik“
Szenenwechsel. Zwei Wochen später in Dithmarschen. Die gastgebende SPD Heide hat den alten Ballsaal des Tivoli in rotes Licht getaucht. Rotes Licht und grüne Wände – die Symbolik gefällt Torsten Albig, wirbt er doch landauf und -ab, die „Küstenkoalition“ mit den Grünen (und dem SSW) fortsetzen zu dürfen. Wie schon im Hamburger Umland tritt hier der Amtsinhaber auf, nicht der Wahlkämpfer. Ruhig, sachlich, selbstbewusst lautet die Botschaft: Wir haben vieles richtig gut gemacht, noch besser wird es, wenn wir weitermachen dürfen.
Davon, dass der SPD-Mann „schneidend und einfühlsam, hochfahrend und voller Witz“ sein könne, wie die „FAZ“ einmal schrieb, ist auch an diesem Abend nichts zu merken. Nichts ist hier schneidend, nichts hochfahrend, wirklich witzig ist er auch nicht. Wenn überhaupt, dann trifft das Attribut einfühlsam noch zu. Vielleicht wirken fünf Jahre Regierungsverantwortung im „glücklichsten Bundesland der Republik“ nachhaltig und beruhigend. Jedenfalls setzt sich Albig zu Beginn des Abends wieder zwischen sie, seine Wähler, guckt im vollen Ballsaal sich selbst zu, wie er in einem Werbefilmchen sein Land und seine Menschen feiert und gleich zu Beginn des Abends das erste Mal „mehr Gerechtigkeit und mehr Solidarität“ einfordert. Nichts das letzte Mal für heute.
Gegenwind lediglich beim Reizthema
Auf die Krawatte verzichtet Albig hier oben an der kargen Westküste, die von dem lebt, was sie erzeugt – vor allem Kohl und Strom. Statt dunklem Anzug und Krawatte trägt er eine helle Hose und ein blaues Sakko. Die Art des Auftritts ist dieselbe, nur dass mehr als 100 Gäste gekommen sind. Deutlich mehr Männer zwischen 40 und 60 sind heute dabei. Die Menschen hier sind konservativer als im Hamburger Umland. Und dennoch ist es ein Heimspiel für den SPD-Politiker, der konsequent Hochdeutsch spricht, wo man hier doch so gerne Platt snackt. Der Applaus beim Schnelldurchgang durch die Themen – in den ersten fünf Minuten geht’s um Gerechtigkeit, Autobahnbau, Fledermäuse und Breitbandverkabelung – kommt schneller, lauter, länger.
Gegenwind gibt’s lediglich beim Reizthema hier oben an der Küste: Erst protestieren Frauen mit Transparenten vor der Tür gegen das EEG, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, dann stören Besucher im Saal die Choreografie der SPD und beschweren sich lautstark. Eigentlich liegen weiße Kärtchen für Wortmeldungen auf den Tischen und kleine rote Stifte. Jusos eilen durch den Ballsaal, um die Fragen einzusammeln.
Plädoyer für die Windkraft
Doch bei Albigs Plädoyer für die Windkraft („alles ist besser als tödliche Atomanlagen“) regt sich deutlich Widerspruch, der einzige an diesem Abend. „Herr Sommer“ hält sich noch an den Ablaufplan und fragt schriftlich, warum niemand „unsere Sorgen über den Lärm der Windanlagen“ löst. Albigs Konter, wonach der Wildwuchs jetzt beendet und die „Mühlen“ gleichmäßiger und damit gerechter (!) im Land verteilt würden, provoziert Zwischenrufe. „Sie erzählen uns einen vom Pferd“, kontert ein Besucher. „Wir wohnen rund 1200 Meter von einer Anlage entfernt. Und sie raubt uns den Schlaf.“ Albig verspricht, den Lärm messen zu lassen. Und der moderierende örtliche SPD-Politiker wechselt lieber schnell das Thema.
Als die 17-jährige Lisa wissen will, warum ausgerechnet sie die SPD wählen soll, liefert sie Albig die Frage zur Antwort, die er längst loswerden wollte. Nicht, dass ich zähle, sondern dass wir, sagt er sinngemäß. Wenn sie glaube, dass es bei einer Wahl nur um den persönlichen Vorteil gehe, „dann musst du FDP wählen. Die SPD ist dann nicht das Richtige für dich“, duzt Albig die 17-Jährige und spricht erneut von seinem Lieblingsthema – Gerechtigkeit für alle. Gerecht, so sieht es der Ministerpräsident, wäre auch seine Wiederwahl.
Auf Wahlkampftour im Land
Schließlich habe die Dänen-Ampel den „Job als Regierung ganz ordentlich gemacht“. Und so setzt Albig auf den Amtsinhaberbonus, von dem zuletzt Malu Dreyer (SPD, Rheinland-Pfalz), Winfried Kretschmann (Grüne, Baden-Württemberg) und Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU, Saarland) profitiert hatten. 32 Prozent Zustimmung erhofft sich Albig. „Dann haben wir die Mehrheit.“ Die jüngste Umfrage sieht die SPD in etwa bei diesem Wert. Um 32 Prozent plus x zu holen, ist Albig viel im Hamburger Umland unterwegs.
Denn „hier und in den großen Städten im Land wird die Wahl entschieden“, ist er überzeugt. Da sich die Menschen hier wohl ebenso sehr Hamburg zugewandt fühlen wie ihrem Heimatland, kann es nichts schaden, wenn er noch auf einen zweiten Amtsinhaber und dessen Bonus setzt. Und so ist Olaf Scholz, dessen Frau Britta Ernst Albigs Bildungsministerin ist und für den es nichts geben dürfte, was er sich nicht zutraut, auf Wahlkampftour im Land – gern auch ohne Begleitung aus Kiel.
Kubicki hat nur Spott übrig für Albig
Zurück in Ahrensburg: Wie Martin Schulz nutzt Albig die Biografie fürs Understatement. Ich bin einer von euch, lautet die Botschaft beider Politiker. Bodenständigkeit wird zur Marke, Volksnähe zum Imagefaktor. Gegner sagen, Schulz und Albig kokettierten mit ihren Lebensläufen. Vom „Sausack in der Schule“ (Schulz über Schulz) bis zu „Eine Fünf in Latein und eine Sauklaue als Schüler“ (Albig über Albig) ist es nicht weit. Die Eltern (Dorfpolizist und Hausfrau in der Schulz-Familie, Soldat und Kellnerin in der von Albig) aus „einfachen Verhältnissen“, ein Fußballfan der Mann aus dem Rheinland, ein THW-Fan der aus Kiel, wo Handball Volkssport ist.
Froh sei er, erzählt Albig, dass er im Norden regiere, wo ein Politiker noch zum Bäcker gehen, den Rasen mähen oder Schrauben einkaufen könne ohne von einem Tross Sicherheitsleuten begleitet zu werden. „Regierungschef in Schleswig-Holstein ist wie ein großer Bürgermeister und nicht wie ein kleiner Kanzler“, sagt er. Und: „Hier hat man noch ein echtes Leben.“ Sätze wie diese lässt die Opposition von Phrasendrescherei reden, wenn sie über Albig spricht. „Ich habe selten jemanden erlebt, der so pathetisch nichts sagen kann, und das über 30, 40 Minuten. Ich sage es mal so: Kommt ein leeres Taxi angefahren, hält, und Torsten Albig steigt aus.“ Das Zitat stammt von dem einzigen Politiker, dem die Schleswig-Holsteiner ähnlich gute Noten geben wie Albig. FDP-Chef Wolfgang Kubicki hat wie im Interview mit der „Welt“ nur Spott übrig für Albig.
Umfragewerte im Keller
Zur Hälfte der Legislaturperiode schien es, als habe die Küstenkoalition abgewirtschaftet. Die Umfragewerte im Keller, Erosion im Kabinett – der Innenminister machte sich freiwillig davon, die Bildungsministerin auf politischen Druck. Doch von Selbstkritik bei Albig keine Spur. Stattdessen lobte er vor zwei Jahren die Regierungsarbeit von Angela Merkel und empfahl seiner Partei, 2017 doch auf einen Kanzlerkandidaten zu verzichten. Abwegig nannten das Albig wohl gesonnene Sozialdemokraten.
Zuvor hatte er politischen Totalschaden erlitten mit seiner Idee eines Straßen-Soli. Danach hätte jeder Autofahrer 100 Euro zahlen sollen, um marode Straßen zu reparieren. Größere politische Schlaglöcher hat er seither umfahren. Und jetzt, wo es auf die Wahlen zugeht, hat sich die Partei auch in den Umfragen wieder gefangen. Vom Schulz-Effekt ist jetzt die Rede und von einer schwachen CDU. Spötter sagen, die SPD sei im Aufwind nicht wegen, sondern trotz Albig.
„Feiertag der Mitte“
Die Themen von Heide sind die aus Ahrensburg. Nein zu Abschiebungen nach Afghanistan, ja zur Energiewende, schnelles Internet, geringe Kitagebühren, Schule („man muss G8 an Gymnasien im Land jetzt auch mal aushalten und nicht schon wieder den Unterricht reformieren“) oder der Umgang mit Rechtsaußen. Albig warnt davor, deren Themen zu besetzen. „Ich versuche stattdessen meine Wähler zu mobilisieren. Wenn die alle wählen gehen, halten wir die Rechten klein“, sagt er und träumt von einem Wahlsonntag 7. Mai, bei dem Marine Le Pen in Frankreich und die AfD in Schleswig-Holstein scheitern. „Das wäre ein Feiertag der Mitte.“
Ein Thema macht Albig so richtig Spaß – die SPD. „Es ist eine schöne Zeit, jetzt in der Partei zu sein“, sagt der Mann, der 1982 eingetreten ist. Also in einer Zeit, in der sich die SPD wegen des anstehenden Nato-Doppelbeschlusses beinahe zerfleischte und Kanzler Helmut Schmidt nach dem Misstrauensvotums abdanken musste. „Seit August Bebel hatten wir nicht mehr so viele Eintritte in die Partei“, schwärmt Albig. Und wem die SPD das zu verdanken habe? Martin Schulz, wem sonst. Rückenwind aus Würselen, nannte das Abendblatt den Effekt im Februar. Die von Schulz geforderten Korrekturen der erfolgreichen Arbeitsmarktreform Gerhard Schröders hält auch Albig für zwingend. Denn: „Das legt den alten Markenkern Gerechtigkeit der SPD wieder frei.“
Der nächste Teil: Robert Habeck –
heimlicher Spitzenkandidat der Grünen erscheint am 20. April 2017