Während viele Regionen an der Westküste unter der Landflucht leiden, wächst hier die Bevölkerung.

Am Millerntor beim Heimspiel von St. Pauli zu sein schafft Paul Rusch nur selten. Trotz Dauerkarte. Es ist ein zu großer Akt, von Hallig Hooge mit der Fähre nach Schlüttsiel hinüberzusetzen und nach Hamburg zu fahren. Das fehlt dem St.-Pauli-Fan, der auf Hallig Hooge lebt, schon. Und sich jederzeit einen Döner holen zu können vermisst er auch.

Obwohl die zehn Halligen im schleswig-holsteinischen Wattenmeer nicht weit weg sind – laut Routenplaner ab Hamburg 200 Kilometer – sind sie es eben doch. Mehrere Tage gehen dafür drauf, wenn Paul Rusch zu einem Heimspiel fährt. Die Anfahrt ist kompliziert, auch weil die Fähre im Winter nur einmal wöchentlich Hooge verlässt. Aber Paul will es nicht anders. Der 21-Jährige ist von Hamburg-Langenhorn auf die zweitgrößte Hallig gezogen. Oder soll man sagen ausgewandert? Denn das Leben der 108 Menschen auf 5,78 Quadratkilometern in Insellage ist so ganz anders. Da kann die Weite schon einmal eng werden.

Hooge ist grün und weit

Hinter dem Zuzug von Paul – auf der Hallig duzen sich alle – steckt ein politisches Konzept. Bürgermeister Matthias Piepgras (SPD) erklärt bei Schnitzel und Bratkartoffeln in der Gaststätte Zum Seehund auf der Hanswarft, wie er es geschafft hat, Menschen auf der Hallig zu halten und neuen Bewohnern eine Zukunft zu bieten.

Denn das Leben hier ist nicht nur ein Neuanfang für Paul Rusch, sondern für 14 weitere Menschen, die in den vergangenen zehn Jahren nach Hallig Hooge gezogen sind. Hooge, die regelmäßig vom Nordseewasser überschwemmt wird, wo es einen Edeka gibt, Gaststätten, eine Kirche. Kein Schwimmbad, kein Kino. Dafür Schafe, Wiesen und Weite. Neubürger wie Paul Rusch sind nötig, damit die Hallig weiter existieren kann. Denn der demografische Wandel trifft viele Regionen an der Westküste und ländliche Regionen bundesweit.

So kommen Sie hin

„Die meisten Menschen zieht es in die Großstädte, weil es dort Arbeitsplätze gibt“, sagt Ökonom und Soziologe Dieter Läpple von der HafenCity-Uni. Dass Menschen auf die Hallig ziehen, sei untypisch. Dahinter steckt ein Masterplan. Denn die Halligen müssen erhalten bleiben – kulturell, aber auch als Küstenschutz, weil sie den Nordseewellen die Wucht nehmen, bevor diese aufs Festland treffen. Um dauerhaft die Zukunft zu sichern, ist die Frage: „Wie kriege ich junge Leute hierher?“, sagt Piepgras.

Glücklich fernab der Großstadt:
Viola Passavanti und Paul Rusch
Glücklich fernab der Großstadt: Viola Passavanti und Paul Rusch © HA | Michael Rauhe

Seine Antwort und die von Stadt­soziologen: „Es gibt fünf existenzielle Säulen: Arbeit, Bildung, Wohnen, Soziales und Gesundheit. Für das Leben auf der Hallig können wir auf keine der Säulen verzichten. Bricht eine der Säulen weg, wird das ganze System bedroht“, sagt Bürgermeister Piepgras. Also hat er sich an die Arbeit gemacht und diese Säulen errichtet. Um Wohnraum zu schaffen, hat die Gemeinde Immobilien gekauft. 15 Wohnungen sind so entstanden. Klingt wenig, ist aber viel: Auf der Hallig gibt es insgesamt nur 60 Wohneinheiten.

Bürgermeister macht mit Konzept alles richtig

Platz für Neubauten gibt es kaum, da das Land regelmäßig Land unter ist. Nur auf den elf Warften kann gebaut werden. Auf Hanswarft entsteht das Nahversorgungszentrum „Markttreff“ mit drei Wohnungen. Arbeit gibt es überwiegend im Tourismus und dem Küstenschutz. Arbeitsplätze sind außerdem im Gebäudemanagement entstanden, ein Hafenmeister wurde eingestellt. Fünf Stellen gibt es für Deicharbeiter.

Eine Lehrerin unterrichtet an der Halligschule acht Kinder bis zur zehnten Klasse, und eine Erzieherin kümmert sich um die fünf Kinder im Kindergarten. Um die Hallig attraktiver zu machen, wurde auch für ein schnelleres Internet gesorgt. Dasselbe Ziel – die Menschen für ein Leben hier zu begeistern – verfolgt das Projekt „Hand gegen Koje“. Dabei arbeiten Menschen vom Festland für Wochen oder Monate bei der Gemeinde und können kostenlos zur Probe wohnen und das Halligleben kennenlernen.

„Ich finde das Watt spannend“

In einer dieser gemeindeeigenen Wohnungen lebt Paul Rusch. Ihm weht der Nordseewind um die Nase. Im August beginnt er eine Ausbildung zum Wasserbauer im Küstenschutz. Möglich sind viele der Maßnahmen auch durch die Unterstützung des Landes Schleswig-Holstein.

Im Winter fährt die Fähre nur einmal in
der Woche auf die Hallig
Im Winter fährt die Fähre nur einmal in der Woche auf die Hallig © HA | Michael Rauhe

Pauls Blick streift über Wiesen bis zum Meer am Horizont, wo Langeneß auf der einen und Pellworm auf der anderen Seite liegt. Die Nordsee ist als fernes Brummen zu hören. Auf Hooge hat Paul Rusch Viola Passavanti kennengelernt. Er war im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes in der Schutzstation, sie hat ein freiwilliges ökologisches Jahr gemacht. Mit der Großstadt kann Viola aus Köln nichts anfangen, Paul hielt es nicht in Hamburg. Beide sind erst 21 Jahre alt, aber Discobesuche brauchen sie nicht. Zum Glücklichsein haben sie einander, die Ruhe und die Natur. Und davon gibt es reichlich.

„Ich finde das Watt spannend und dieses Phänomen von Ebbe und Flut“, sagt Paul. Und Viola schwärmt von der Weite: „Wenn es regnet, ist es überall grau. Aber hier erlebe ich die Natur, den Wind, die Vögel und gucke nicht auf eine graue Häuserwand“, sagt sie. Sie arbeitet im Gemeindebüro und beginnt ein Informatik-Fernstudium.

Vor allem beamtenähnliche Jobs

Was Hooge im Kleinen leistet, sagt Bürgermeister Piepgras selbstsicher, sei übertragbar auf die Städte. Das sieht Stadtforscher Läpple kritischer: Die Situation auf Hooge sei nicht vergleichbar mit der Stadt: „Dort herrscht der wilde Markt, auf Hooge sind doch vor allem beamtenähnliche Jobs in der Verwaltung entstanden.“ Er sagt aber auch: „Die machen auf Hooge alles richtig.“ Er hofft, das Konzept findet Nachahmer. Der Trend zur Landflucht werde dadurch allerdings nicht gebrochen. „Aber so kann man die Lage zumindest stabilisieren.“ Wichtig sei zu bedenken, dass ein Job für die Familie nicht reicht. „Auch der Partner braucht Arbeit. Sonst wird einer von beiden unzufrieden, und das gefährdet die Beziehung.“

Thorsten und Corinna Junker mit den
Söhnen Nick und Fynn
Thorsten und Corinna Junker mit den Söhnen Nick und Fynn © HA | Michael Rauhe

So versucht Corinna Junker (48), sich ein Standbein mit einem Souvenirladen aufzubauen. Ein Geschäft hauptsächlich für die Sommermonate, wenn bis zu 600 Tagesgäste auf die Hallig kommen. Im Moment geht es bei ihr ruhig zu, während ihr Mann an verschiedenen Fronten aktiv ist: Thorsten Junker (49) ist der neue Hafenmeister. Mit seiner Frau und Nick (11) und Fynn (9) ist er vor zwei Jahren aus dem nordrhein-westfälischen Bad Oeynhausen nach Hooge gezogen. Sie haben ihren Fotoladen aufgegeben und sich auf Hooge ein Haus gekauft. Er hat eine Zusatzausbildung begonnen und wird der neue Seehundjäger.

Thorsten Junker ist sozial eingebunden, hat Freunde. Wichtig war der Familie die medizinische Versorgung: Ein Sanitäter kümmert sich darum, regelmäßig kommt ein Arzt vom Festland. Als Corinna Junker einen Bandscheibenvorfall hatte, war der Rettungshubschrauber innerhalb von Minuten da. Bürgermeister Piepgras plant schon Neues: Im Gespräch ist ein Telemedizinprojekt.

Laptop als ständige Verbindung nach draußen

Wenn Corinna in der Küche sitzt, kann sie ihrem Mann am Hafen bei der Arbeit zusehen. Sie sagt, sie habe keine Freundin auf Hooge. Möglichkeiten, mit anderen zusammenzukommen, gibt es durchaus: In der Theatergruppe, im Segel- und Boßelverein. „Aber in Zeiten von Facebook und WhatsApp fehlt eine Freundin auch nicht“, sagt sie.

Ihre Jungs haben Freunde gefunden. Nicks Kumpel Melf wohnt nebenan, zu Geburtstagen laden sich alle Halligkinder gegenseitig ein, niemand ist außen vor. Einen Sportverein gibt es allerdings nicht. Am liebsten, sagt Nick, zockt er oben in seinem Zimmer am Computer. Wie andere Kinder in seinem Alter auf dem Festland eben auch. Corinna Junker sitzt beim Gespräch am Küchentisch hinter ihrem aufgeklappten Laptop, er ist ständige Verbindung nach draußen. Thorstens Freunde seien auch ihre. „Die Hallig lehrt dich das, was du im Leben noch nicht gelernt hast“, sagt der Bürgermeister später. Und das kann manchmal hart sein.

Hooger sind sture Menschen – und liebenswert

Piepgras, der Sonderpädagoge aus Kiel, ist vor 17 Jahren nach Hooge gezogen und muss trotz seiner Erfolge zugeben: „Das Soziale ist der Knackpunkt. Das habe ich nicht so eingeschätzt.“ Das Miteinander der Menschen, eben eine der fünf Säulen, ist aber wichtig für die Zukunft. Jetzt kommt es auf die Menschen an: „In­tegration läuft von beiden Seiten, von den Zugezogenen und den Alteingesessenen“, sagt Thorsten Junker. Die Generationen finden nicht zueinander. Da unterscheidet sich die Hallig nicht so sehr von der Großstadt Hamburg.

„Es ist nicht so, dass die Leute auf dich warten“, sagt Gertrude von Holdt-Schermuly am nächsten Tag in dem Gemeindehaus neben der Kirche von 1637. Die 69-Jährige arbeitet als Pastorin und möchte zum Sommer ihren Job aufgeben, um mehr Zeit für ihre Enkel auf dem Festland zu haben. Die Gemeinde sucht daher einen neuen Pastor, aber nur Teilzeit. Die Suche wird schwierig. Immerhin kann sich der Neue auf ein saniertes Gemeindehaus freuen und auf eine Wohnung. „Ein neuer Pastor muss viel Liebe zu den Menschen haben“, sagt die Kirchenfrau. Die „Halliglüüd“ seien spröde und stur. „Aber auch unglaublich liebenswert!“

Wer nach Hooge zieht, dürfe sich nicht aufdrängen. „Das können die Menschen gar nicht ab. Man muss warten.“ Für Trutje von Holdt ist klar: „Wir brauchen neue Leute, weil wir sonst einpacken können.“

Buchtipp: Katja Just ist mit 25 Jahren von München nach Hooge gezogen. In „Barfuß auf dem Sommerdeich“ beschreibt sie das Hallig-leben. 14,95 Euro. ISBN: 978-3-959101-17-2

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