Bleckede . Wenige Kilometer außerhalb der Stadt liegen die tollsten Ziele für den Tagesausflug in die Natur – zu Fuß, per Rad oder mit dem Schiff.

Sonnengebräunt sitzen Wilfriede und Gunter Hartwig, 67, vor einer Laube. Sie tragen ein blaues T-Shirt mit der Aufschrift „IG Draisine Bleckede“ und warten auf Kundschaft. Zwei Polizisten patrouillieren auf Pferden über ein schmales Gleis, das an der Laube entlangführt und in einen Kiefernwald mündet.

Gunter Hartwig winkt gut gelaunt den Polizisten zu. Schließlich kennt man sich als Kollegen, denn der Vorsitzende der IG Draisine Bleckede arbeitete jahrelang in Hamburg bei der Kriminalpolizei. Jetzt aber ist der Pensionär Bahnhofshofvorsteher, Schranken- wärter, Tourismusfachmann und Schrauber in einer Person: Herr über 13 Draisinen, die in einer halben Stunde bis auf den letzten Platz besetzt sein werden und zu einer dreistündigen Tour durch Wiesen und Wälder entlang der schönsten Flussauenlandschaft im Norden starten.

Draisinen ist die etwas ungewöhnliche Bezeichnung für Schienenfahrzeuge, die per Muskelkraft oder Motorantrieb unterwegs sind. Ihr Name leitet sich von Karl Drais ab, der 1817 die nach ihm benannte „Drais’sche Laufmaschine“ erfand. Ein Fahrrad ohne Pedale. Die Draisinen, die im Draisinenbahnhof von Alt-Garge, einem einst reichen Stadtteil von Bleckede stehen, werden in der ersten Reihe von zwei Personen betrieben, die in die Pedale treten müssen. Wer in der zweiten Reihe sitzt, sieht nicht unbedingt besser, kann aber die Fahrt ohne körperliche Ertüchtigung genießen.

Gerade trifft eine Familie aus Großhansdorf ein. Vor allem die beiden Söhne Lukas, 11, und Leon, 7, sind gespannt auf die Tour durch die Natur pur. Sie haben für mehrere Tage auf dem Campingsplatz Alt-Garge ihren Wohnwagen abgestellt und wollen nun das schöne Wetter für diesen ungewöhnlichen Ausflug nutzen. „Zum Glück gab es noch einen freien Wagen, denn wir haben heute morgen spontan gebucht“, sagen die Eltern. „Wir freuen uns auf die Natur und werden hoffentlich auch Tiere sehen.“

Unterdessen kommt der bekannte Hamburger Wettermoderator Frank Böttcher mit seiner Familie zum Check-in. „Unsere Wettervorhersage stimmt mal wieder“, sagt er schmunzelnd und zeigt auf den azurblauen Himmel, der sich über dem Draisinenbahnhof wölbt. „Für uns ist diese Tour eine besondere Form der Entschleunigung und Bewegung“, sagt er.

Bevor Gunter Hartwig allen Draisinenwagen mit insgesamt 50 Passagieren grünes Licht für den Start gibt, greift seine Frau zum Megafon. Noch einmal erfolgen wichtige Hinweise zum Verhalten an Bord, Wendepunkten und Streckenverlauf.

17 Kilometer geht es auf dem still gelegten Industriegleis durch Feld, Wald und Wiese. Dafür stehen drei Stunden Zeit zur Verfügung, wobei die reine Fahrzeit 1,5 Stunden beträgt. Der pensionierte Polizeibeamte sichert zunächst die viel befahrene Straße in Alt-Garge – und schon ist die Kolonne in Richtung Bleckede unterwegs. Es geht an Feldern und Grünland entlang. Im Mischwaldgebiet Spröckel stehen die Bäume so nah am Gleis, dass man sie fast mit den Händen greifen kann.

Gunter Hartwig leitet die Interessengemeinschaft
Draisine
Gunter Hartwig leitet die Interessengemeinschaft Draisine © Edgar Hasse

Die erste Wendestation ist das idyllisch gelegene Restaurant Waldfrieden südlich von Bleckede. Dort geht es wieder zurück Richtung Alt-Garge und dann noch ein Stück weiter bis zur Elbe, wo sich der letzte Wendepunkt befindet. Hier können die Passagiere den weiten Blick über den Strom und die Elbtalaue genießen. Gerade die Großstädter wissen die himmlische Ruhe zu schätzen. Rudi und Birgit Reese aus Kiel sagen: „Es ist traumhaft schön hier.“ Sie gehören zu einer kleinen Reisegruppe, die sich schon seit 40 Jahren kennt und gemeinsam bei diesem Ausflug Spaß haben will.

Derweil sitzt das Ehepaar Hartwig wieder vor der Laube der IG Draisine Bleckede und wartet auf die Rückkehrer und die neuen Gäste. Einige von ihnen kaufen in der Laube Getränke auf Spendenbasis. Mit den Einnahmen unterstützt die Interessengemeinschaft das Hospiz Sternenbrücke und eine schwerst behinderte Jugendliche.

Inzwischen sind die ersten Draisinen am letzten Wendepunkt angekommen. Die Sonne glitzert im Elbwasser, und sanft schmiegen sich Weiden an den Gestaden des Stroms. Jetzt geht es zurück vom Ausflug auf einem Gleis, das die damaligen Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW) bauen ließen. Während des Zweiten Weltkrieges wurde hier ein weiteres Kohlekraftwerk errichtet, um die Stromversorgung der Metropole bei Bombenangriffen besser zu sichern. Häftlinge aus dem KZ Außenlager Alt-Garge mussten die Gleisanlagen bauen.

Das Kohlekraftwerk steht längst nicht mehr. Geblieben ist aber die Liebe der Einheimischen für diese naturbelassene Region. Die IG Draisine gibt es seit zwölf Jahren und befördert in der Saison von April bis Oktober rund 4500 Gäste, davon ein Drittel Kinder. „Die 120 Kilogramm schweren Schienenfahrzeuge können bei kräftigem Treten in die Pedale 20 Stundenkilometer fahren“, sagt Gunter Hartwig. Aber wer will das schon in dieser beschaulichen Landschaft, wo die Uhren langsamer gehen.

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