Der Fotograf Thorsten Ahlf hat mit seiner Drohne ungewöhnliche Aufnahmen gemacht. Teil 3: Das Holstentor in Lübeck.

Hier steht das (Holsten-)Tor und kann nicht anders. Ein wenig trutzig. Von der stadtauswärts gerichteten, sogenannten Feldseite (Foto) wirkt es wehrhafter, mächtiger und zugemauerter als die der City zugewandte Kehrseite, auf der die Backsteinfassade über drei Stockwerke von kunstvollen Fensterbändern beherrscht wird. Was hat den Stadtbaumeister Hinrich Helmstede im Jahr 1464 dazu getrieben, zwei so unterschiedliche Fassaden in mühe­vollen 14 Jahren Bauzeit in das Doppelturmgebäude zu zwängen? War er unentschlossen? Oder durchgeknallt? Keineswegs, die beiden Seiten sind kein Widerspruch. Denn von Anfang an sollte das Bauwerk zwei wichtige Funktionen erfüllen: zum einen (nach außen) der Verteidigung dienen, zum anderen (nach innen gerichtet) Macht und Reichtum der stolzen Hansestädter repräsentieren, die sich beim Bau von niederländischen Vorbildern hatten inspirieren lassen.

Vor 150 Jahren wollten viele das Tor abreißen – es wurde nur knapp gerettet

Heute kurven die Autos rund um das Lübecker Wahrzeichen. Aber jahrhundertelang kamen Besucher, ob in der Kutsche, per pedes oder hoch zu Ross, nur durch den Torbogen mittenmang in die Stadt. Und das auch nur, wenn beide Torflügel offen standen, die es heute nicht mehr gibt. Dafür lässt einen das martialische Fallgitter erschaudern. „Mein Gott, wer ist an ihm alles zu Tode gekommen?“, mögen Besucher sich gruseln. Klare Antwort: „Niemand“. Das Fallgitter wurde erst 1934 installiert. Früher hingen an der Stelle aber Eisenstangen, die nicht als Ganzes, sondern nur einzeln rauf- und heruntergelassen werden konnten, im Volksmund „Orgelwerk“ genannt. So konnten Lübecker noch schnell durch den schmalen Spalt in ihre Stadt schlüpfen, selbst wenn der Durchgang den feindlichen Reitern oder Fuhrwerken schon versperrt war.

Andere interessante Tordetails an dem über 500 Jahre alten Gebäude stammen ebenfalls aus neuerer Zeit, oft aus dem 19. Jahrhundert. Damals bröckelte das Tor vor sich hin, und die Bürgerschaft beriet zehn lange Jahre darüber, ob ein Abriss nicht die beste Lösung für die Zukunft sei (nicht auszudenken, wohin diese Diskussion in Hamburg wohl geführt hätte). In Lübeck beschlossen die Stadtväter jedenfalls am 15. Juni 1863 mit der denkbar knappsten Mehrheit von nur einer Stimme (42 zu 41), das Torgebäude zu erhalten. Noch im selben Jahr begann die Renovierung. Und weil sich die Arbeiten bis 1871 hinzogen, zufälligerweise dem Jahr der Reichsgründung, wurde das Bauwerk gleich zum deutschen Denkmal hoch stilisiert. Von 1871 stammt auch das an der Stadtseite angebrachte Kürzel S.P.Q.L. (Senatus populusque Lubecensis = Senat und Volk Lübecks), eine Anspielung auf das römische Hoheitszeichen SPQR, mit dem die antiken Legionen der Zentralmacht Rom vor 2000 Jahren ihre Standarten schmückten (und das heute auf römischen Gullydeckeln prangt).

An den bis zu 3,50 Meter dicken Mauern des Holstentors haftet so manches historische Zeugnis. So gab es seit 1934 hoch oben unter der Dachrinne ein Hakenkreuz an einem Regenrohr. 1990 beschloss die Stadt, das schwer zugängliche Nazisymbol zu entfernen – aber erst, wenn das Gebäude ohnehin eingerüstet wird. Im Mai 2005 war es so weit, das Hakenkreuz sollte mit einer Metallplatte versiegelt werden. Dazu kam es aber nicht, Diebe waren schneller. Sie kletterten auf das Gerüst und schnitten das Hakenkreuz aus dem Kupferblech. Die Täter wurden nie gefasst, drei Jahre später stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein.

2004 bis 2006 gab es die letzte größere Restaurierung, bei ihr wurden die Schieferdächer erneuert sowie die Terrakottafriese und Teile des Mauerwerks.

Der 50-D-Mark-Schein ist Geschichte, aber Zwei-Euro-Münzen gibt es noch

Im Innern erwartet ein Museum die Besucher, inklusive Angebot für Kinder zu Halloween. Zu D-Mark-Zeiten war das Holstentor millionenfach in Umlauf – als Motiv auf dem 50-D-Mark-Schein (1958 bis 1991). Seit 2006 ist es noch auf einigen Zwei-Euro-Münzen verewigt. Und wer heute durch das Holstentor in die Innenstadt geht, den verfolgt das Wahrzeichen überall: Es ziert Taler und Barren aus Marzipan – ebenfalls ein Lübecker Markenzeichen – es schmückt Taschen, Schlüsselbänder, Becher und Beutel oder Magnete für die Kühlschranktür. Und wer ohne eigenes Schnitztalent sein Hausgebäck als Holstentor formen will, greift zur „Ausstechform Holstentor“ und kann dann bei seinen Gästen ausprobieren, was Lübeck-Liebhaber seit Langem wissen: Das Holstentor haben viele zum Knabbern gern.