Auch ein Jahr nach dem Ende der Entbindungsstation in Westerland fehlt ein Konzept. Zahl der ungeplanten Hausgeburten steigt. Verlegungen aufs Festland laufen nicht immer wie geplant.
Westerland. Bisher ist alles gut gegangen. Den Sylter Babys des Jahres 2014 und ihren Müttern geht es gut. Das ist bei den gegebenen Umständen alles andere als selbstverständlich. Seit einem Jahr ist die einzige Geburtsstation der Insel in der Nordseeklinik in Westerland geschlossen, und noch immer gibt es kein Konzept für den Notfall. Für den Normalfall haben Krankenkassen, das Kieler Gesundheitsministerium und zwei Krankenhäuser sogenannte Boarding-Konzepte entwickelt. Die werdenden Mütter sollen zwei Wochen vor der Geburt die Insel verlassen, werden kostenlos in Kliniknähe untergebracht und können dort ihr Kind auf die Welt bringen. Das aber funktioniert nicht immer.
Zum Beispiel bei Sarah Klein. Die 22-Jährige hatte nichts von ihrer Schwangerschaft bemerkt und kam im November mit Unterbauchschmerzen in die Nordseeklinik. Kurz darauf erblickte der mittlerweile gut sechs Wochen alte Marley überraschend das Licht der Welt. In einem Krankenhaus ohne Kreißsaal und ohne Hebamme. „Mein Frauenarzt hat mich nur angeschrien, ich soll pressen, sonst mache ich das Kind tot“, berichtet Klein von der Geburt. Ihren Freund habe das aufgeregte Klinikpersonal nicht beachtet. Erst als das Baby geboren war, sei ihm eröffnet worden: „Sie haben ein Kind.“
Mittlerweile betreut die Sylter Hebamme Anke Bertram die junge Mutter. Schon in der Nacht von Marleys Geburt war die Hebamme vergeblich von einer unbekannten Handynummer aus angerufen worden. „Wenn die etwas aufs Band gesprochen hätten, wäre ich natürlich in die Klinik gefahren“, sagt Bertram. Rufbereitschaft hat sie nicht, denn da es keinen Notfallplan auf Sylt gibt, gibt es auch keine Rufbereitschaft. Dafür gab es in den vergangenen zwölf Monaten einige Notfälle. Die 48-Jährige befürchtet weitere, und davon könnten auch schwangere Touristinnen betroffen sein. Und auch wenn die Nordseeklinik, die zum Konzern Asklepios gehört, eigentlich gar nicht mehr ordentlich ausgerüstet ist: Im Notfall fahren die Rettungswagen sie zuweilen doch an. Bertram berichtet von zwei Kaiserschnitten und einer natürlichen Geburt jeweils ohne Hebamme in der Nordseeklinik. Dabei gebe das Hebammengesetz vor, dass Ärzte eine Hebamme für eine Geburt hinzuziehen müssen. Ohne Notfallplan und Rufbereitschaft ist das schwierig und zuweilen unmöglich.
Aber auch Verlegungen aufs Festland laufen nicht immer wie geplant. In diesem Jahr flogen mehr Rettungshubschrauber als je zuvor Schwangere aus. So kommen die Wehen zu früh oder die Frau konnte oder wollte die Insel nicht 14 Tage vor der Geburt verlassen. Zuletzt wurde eine Frau laut Bertram von sechs Soldaten mit einem Hubschrauber der Bundeswehr verlegt, der werdende Vater musste mit dem Autozug hinterherfahren. „Ich warte darauf, dass der erste Vater in den Graben fährt vor lauter Aufregung“, sagt Bertram. Sieben Schwangere waren dieses Jahr nach den ersten Wehen nicht mehr transportfähig und brachten ihre Kinder zu Hause auf die Welt. Denn auch wenn die drei Sylter Hebammen sich wie viele ihrer Berufskolleginnen die massiv gestiegene Versicherungsprämie für ambulante Geburten nicht mehr leisten können – in solch einem Notfall gelte ihre Versicherung doch, erläutert Bertram.
Nach Sylt wurde auch in Oldenburg die Geburtsstation geschlossen
Annika Flintermann schaffte es rechtzeitig zur Geburt von Stina vor viereinhalb Monaten in das Flensburger Diakonissenkrankenhaus (Diako). Zuvor hatte sie sich das Gästehaus der Niebüller Klinik angeschaut. „Da bin ich sofort wieder raus, da kann man niemanden unterbringen“, sagt die 23-Jährige, die Fotos von großen Schmutzflecken im Zimmer gemacht hat. In Flensburg wiederum sei sie zunächst zurück auf die Insel geschickt worden, obwohl der errechnete Geburtstermin in sechs Tagen bevorstand. „Dieses ewige Hin-und-her-Gefahre ist in der Schwangerschaft ziemlich nervenaufreibend“, sagt die junge Mutter.
Von 35 weiteren Sylter Babys in Flensburg berichtet die leitende Hebamme der Diako, Anke Jürgensen. „Aus unserer Sicht ist es so gut gelaufen, wie es nur laufen konnte.“ Die Station stelle sich auf die Sylter besonders ein. Sie sieht jedoch die Tendenz zu immer weniger Geburtskliniken und immer größeren Zentren kritisch. Schließlich wünschten sich nicht alle werdenden Eltern eine Geburt im Umfeld der Hightech-Medizin, wie sie die Diako bietet. „Das Recht der Frau auf die Wahl des Geburtsorts wird maximal beschnitten. Das macht einen fast sprachlos“, sagt Jürgensen. Denn nach Westerland ist 2014 in Oldenburg die nächste kleine Geburtsstation geschlossen worden. Auch das Geburtshaus in Kiel hat dichtgemacht. „Angesichts weiterhin sinkender Geburtszahlen, steigenden Anforderungen an die Qualität sowie dem zunehmenden Fachkräftemangel gibt es allerdings längerfristig und bundesweit den weiterhin andauernden Trend zu Konzentrationen“, sagt Christian Kohl, Sprecher des Kieler Gesundheitsministeriums. Konkrete Pläne für weitere Schließungen sind ihm nicht bekannt.
In den Augen der gebürtigen Sylterin Sinje Petersen ist das keine gute Entwicklung. Sie brachte ihren Paul Oskar vor einem halben Jahr auf der Nachbarinsel Föhr zur Welt. Dort gibt es im Krankenhaus von Wyk noch eine kleine Geburtsstation. „Man fühlt sich nicht wie eine Legehenne, sondern gut betreut“, sagt die 33-Jährige mit Blick auf die großen Häuser mit teilweise mehr als 2000 Geburten im Jahr. Die Geburt ihres Sohnes sei ruhig, entspannt und ohne Hektik verlaufen. Das ist auch ganz im Sinne der Sylter Hebamme Bertram. „Schwangerschaft und Geburt sind ein physiologischer Prozess“, sagt sie. „Geburtshilfe ist Geduldshilfe.“ Das steht ganz im Gegensatz zur Situation auf Sylt. Hier werde über Geburten nur noch wie über Notfälle gesprochen.