Glück bemisst sich in Loitz nicht am Kontostand. In der Kleinstadt in Vorpommern sind die Löhne gering, die Renten niedrig. Die Jungen sind gegangen, die Bevölkerung schrumpft. Doch vielleicht kommt alles ganz anders? Die Stadt stemmt sich gegen den demografischen Wandel.
Loitz. Es ist Mittagszeit und im Fahrradladen von Ulrich Polzin zeigt die Uhr hinter der Ladentheke dreiviertel neun. In dem Geschäft in der Altstadt von Loitz riecht es nach Gummi, Öl und Metall. Es ist dieser typische Radladen-Duft, den man aus Kindertagen kennt. Ladeninhaber Polzin schraubt Stützräder an ein nagelneues Kinderfahrrad. Einen Käufer gibt es dafür noch nicht, aber vielleicht kommt ja bald einer. „Die Geschäfte laufen nicht mehr so gut“, sagt der 69-Jährige. Vielleicht noch ein oder zwei Jahre, dann macht er den Laden dicht. Einen Nachfolger, da ist sich Polzin ziemlich sicher, wird er nicht finden. Wofür auch? „Es leben ja immer weniger Menschen in Loitz.“
Loitz ist ein kleines verträumtes Ackerbürgerstädtchen im vorpommerschen Hinterland abseits der Ostseeküste. Der Ort steht beispielhaft für andere ländliche Regionen in Brandenburg, Sachsen-Anhalt oder auch Niedersachsen. Eine Straße mit zweigeschossigen barocken Häusern schlängelt sich durch die Innenstadt. Der Fluss Peene umschmeichelt sanft den Ort.
In der real-sozialistischen Mangelwirtschaft galt Loitz als Geheimtipp. Man kam von Greifswald oder Neubrandenburg zum Einkaufen in die Kleinstadt. Private Handwerker und Händler boten hier auf dem Land eine Warenvielfalt, die es in den staatlichen und genossenschaftlichen HO- und Konsumläden der größeren Städte nicht gab. Heute ist die Straße verwaist, die meisten Läden sind geschlossen. „Es ist wie Tag und Nacht“, sagt Polzin, der seit 50 Jahren im Fahrradgeschäft arbeitet.
Die Demografiestrategie des Bundes stellt fest: „Obwohl die Bevölkerung in allen Regionen altern wird, gibt es auch bei der Alterung erhebliche regionale Unterschiede. Sie verläuft dort besonders stark, wo eine hohe Abnahme der Jüngeren (Alterung von unten) mit einer starken Zunahme der Hochbetagten (Alterung von oben) zusammen trifft.“
In der Kleinstadt Loitz sank die Einwohnerzahl parallel mit dem Niedergang an Arbeitsplätzen. Einen industriellen Kern gibt es schon lange nicht mehr. Erst wurde das Dübelwerk verkauft; 1999 schloss die Stärkefabrik, nachdem die Fördermittelbindung abgelaufen war. Mehr als 1000 Arbeitsplätze sind seit der Wende weggefallen, schätzt Bürgermeister Michael Sack (CDU). Rund 10 000 Menschen wohnten um 1990 hier, jetzt sind es im Amt Peenetal-Loitz knapp 6400. „Wir sind mitten im demografischen Wandel“, sagt Sack. „Doch wir tun etwas dagegen.“
Seit 2012 ist das Amt Peenetal-Loitz Teil des Modellprojekts Regionalplanung (MORO) der Bundesregierung. Die Bestandsanalyse, sagt Sack, habe ihn erschreckt. „Als die Zahlen vorgestellt wurden, war es ganz ruhig im Amtsausschuss.“ Bis 2030 wird Loitz noch insgesamt mehr als 1000 weitere Einwohner verlieren, dabei steigt der Anteil der Älteren drastisch. Die Gutachter sprechen von „weiter rückläufigen Einkommenslagen“, von „nicht wenigen“ Vereinen, deren Vorstände älter als 80 Jahre alt sind und deren Funktionsfähigkeit wegzubrechen droht.
In der Demografiestrategie des Bundes heißt es: „Deutschland bleibt nur lebenswert, wenn es bei diesen Entwicklungen seine Solidarität zwischen den Regionen bewahrt und jede Region faire Entwicklungschancen und Unterstützung erhält.“
Michael Sack (41) ist ein eloquenter Typ, den die Loitzer mögen. Bürgermeister wollte er eigentlich nicht werden. Nach seinem Bauingenieurs-Studium ist der in einem vorpommerschen Dorf aufgewachsene Mann in die alte Heimat zurückgekehrt. Er wolle das bürgerliche Engagement stärken. „Menschen, die Arbeit haben und in ihrer Heimat verwurzelt sind, ziehen nicht weg“, ist er überzeugt.
Jetzt kehrt er zunächst die Scherben der geplatzten Träume anderer zusammen. Viele Häuser stehen in Loitz leer. In der Hoffnung auf hohe Renditen und blühende Landschaften wechselten sie nach der Wende den Besitzer. Die Erwartungen an schnellen Gewinn bestätigten sich nicht. Einige Immobilien gingen inzwischen ein weiteres Mal für wenig Geld an neue Eigentümer. Ein Gebäude kaufte eine Immobilienfirma für 5000 Euro und belieh die Ruine mit 40 000 Euro. „Wilde Investoren, die die Häuser als Spekulationsobjekte nutzen, helfen uns nicht“, sagt Sack wütend. „Das ist Stillstand.“
Der Bevölkerungsgeograf Helmut Klüter arbeitet an der Universität Greifswald. Er ist einer der wenigen Demografieexperten, die sich mit der Bevölkerungsentwicklung auf dem Land beschäftigen. Die Prognosen seiner „urban geprägten“ Kollegen von entleerten ländlichen Räumen könne er nicht nachvollziehen, sagt Klüter. Im Jahr 2013 habe Mecklenburg-Vorpommern einen Wanderungszuwachs von 2900 Menschen verzeichnet, prognostiziert war ein Verlust von 5800. Nicht nur Städte begrüßen neue Bürger, sondern auch Dörfer – vor allem entlang der A 20.
Klüter nennt das „Zuwanderungsrakete“, spricht von den „Gärten der Metropolen“ Hamburg und Berlin, wo teurer und knapper Wohnraum, die Menschen aufs Land treibt. Doch noch immer sterben in Mecklenburg-Vorpommern mehr Menschen als geboren werden.
„Entscheidend ist, dass die Orte die Schulen nicht verlieren“, sagt Klüter. Sie sind der Garant dafür, dass Familien in Orten bleiben, Lehrer dort wohnen und Handwerker Aufträge erhalten. Der Landesregierung in Schwerin wirft Klüter Fehler vor. Zu voreilig sei auf die Schließung von Schulen gesetzt worden. Damit forciere die Landespolitik die Probleme auf dem Land. In Loitz werden 2015 voraussichtlich 45 Kinder eingeschult, neun mehr als im Vorjahr.
Die Demografiestrategie des Bundes hält fest: „Dort, wo die Wege länger werden und die Infrastruktur ausdünnt, müssen innovative Angebotsformen für die Daseinsvorsorge, Mobilität und Nahversorgung entwickelt werden.“
Eberhard Segler (59) ist auf dem Weg vom Arzt nach Hause. In der Markstraße bleibt er stehen. Ein Bagger zerrt im Auftrag der Stadt den Dachstuhl von einem alten Gebäude, dessen Fassade auf die Straße zu stürzen droht. „Schade, aber das Haus stand ja jahrelang leer“, sagt Segler, ein stiller Mann, der nicht viel redet. Ein Käufer fand sich trotz vieler Bemühungen für die städtische Immobilie nicht. Seglers zwei Töchter sind nach der Wende in den Westen gegangen, weil sie dort Arbeit fanden. „Die verdienen doch dort das Doppelte“, sagt der Rentner. Nur sein Sohn sei geblieben.
Weggehen kommt für Segler nicht in Frage, auch wenn er seine Töchter und deren Familien selten sieht. „In Loitz kann man leben. Ist doch alles da.“ Discounter am Stadtrand, die Ärzte um die Ecke. Ein Auto brauche er nicht, betont er. Wenn da nicht die leeren Geschäfte in der Innenstadt wären. Alles ist eine Frage der Perspektive: Für Eberhard Segler und auch Ingrid Ohlrich (80) ist Loitz das Zentrum, umgeben vom Problem: die kleinen Dörfer, in denen es keinen Arzt und Dorfladen gibt. „Ich bin in Loitz geboren und hier werde ich auch sterben“, sagt Ohlrich.
Glück bemisst sich in der vorpommerschen Kleinstadt nicht am Kontostand. Die Kaufkraft in der Region ist niedrig. Und daran wird sich so schnell nichts ändern, mutmaßt Bürgermeister Sack. Der Anteil der Rentenempfänger wächst, vor allem derer, die aufgrund niedriger Löhne und langer Arbeitslosigkeit schon jetzt oder künftig mit kleinen Renten auskommen müssen.
Die Demografiestrategie des Bundes warnt: Eine überdurchschnittliche Bevölkerungsabnahme „wirkt sich nicht nur auf das gesellschaftliche Leben, den Gebäudeleerstand und die Immobilienpreise aus, sondern erschwert eine wohnortnahe Daseinsvorsorge und verschlechtert die Beschäftigungs- und Einkommensperspektiven.“
Mit dem MORO-Projekt wurden die Einwohner im Amt Peenetal-Loitz zu ihren Erwartungen an Verkehr, medizinische Versorgung, Schulentwicklung und Senioren-Betreuung befragt. Inzwischen wurden sechs Generationen- und Mobilitätsmanager engagiert. Sie gelten als Ansprechpartner für die Bewohner umliegender Dörfer, sollen nachbarschaftlich tragende Strukturen organisieren, wenn die Infrastruktur immer mehr ausdünnt. In Loitz ist ein Architektenwettbewerb für den Bau von seniorengerechten Wohnungen ausgeschrieben. „Wenn die Alten von den Dörfern wegziehen, dann wollen sie nach Loitz“, sagt MORO-Projektmanagerin Elke Marquardt.
Arbeitsplätze sind der Schlüssel für die Zukunft der Stadt, weiß Bürgermeister Sack. Vom Boom der erneuerbaren Energien, der auf den Äckern in Form von rotierenden Windkrafträdern sichtbar ist, bleibt bislang kaum etwas in der Region hängen. „Wir brauchen die Firmensitze hier“, sagt er. Das Land müsse aufpassen, dass es nicht die wichtigste Ressource, dieses einzigartige Panorama, diesen weiten herzbefreienden Blick über die herbe, norddeutsche Landschaft zu Billigpreisen verramsche, sagt Sack.
Verschiedene Initiativen haben sich gegründet: die Loitzer Hafendestillerie und Brauerei produziert „Loitzer Torfkopp“ – ein dunkles Lagerbier. Erstmals wurde eine Weinkönigin gekürt. Mehrere Loitzer haben sich zu einem Winzerverein zusammengeschlossen. „Eine dufte Truppe“, sagt Sack, der selbst 24 Weinstöcke gezeichnet hat. „Es gibt eine neue Generation von Menschen mittleren Alters, die etwas bewegen will.“
Thomas Krakau (45) gehört zu dieser Generation. Er ist Optikermeister mit eigenem Laden. Um die Zukunft seines Geschäftes macht er sich keine Sorgen. „Der demografische Wandel spielt mir in die Karten“, sagt er. Viele ältere Loitzer sind Kunden bei dem Optiker – dem einzigen in der Stadt. Thomas Krakau ist in vielen Vereinen aktiv: Fußball-, Handball-, Schützenverein. „Der soziale Zusammenhalt ist hier groß. Nicht so anonym wie in einer großen Stadt.“ Vor kurzem hat er eines dieser sanierungsbedürftigen Häuser gekauft, will es sanieren und dort einziehen.
Auch der Berliner Künstler Peter Tucholski gehört dazu. Als er anderthalb Jahre alt war, verließen seine Eltern während der Verfolgungsaktion „Rose“ Haus und Heimatstadt und gingen nach West-Berlin. Rund 60 Jahre ist das jetzt her. Eine bewusste Erinnerung habe er nie an Loitz gehabt. „Aber immer diesen Phantomschmerz hier“, sagt Tucholski und klopft sich auf die Brust.
1991 erwarb er das Vaterhaus, ein Hotel mit Tanzsaal, und sanierte das Gebäude mit Städtebaufördermitteln. Das „Ballhaus-Tucholski“ ist heute das Fenster der Loitzer nach draußen. Zehn einwöchige Veranstaltungen – Tangoworkshops, Kreativ-Seminare, Schülerfreizeiten – leitet Tucholski in dem Gebäude pro Jahr. Vielleicht verliebt sich ja einer der jährlich 400 bis 600 Teilnehmer in eines der vielen leerstehenden Gebäude.