Drei Schwerverbrechern gelang in Niedersachsen innerhalb kurzer Zeit die Flucht. So fehlt von Straftäter Chamil Gasanaliev weiter jede Spur. Justizministerin und Ministerpräsident in der Kritik.

Hannover. Das Landeskriminalamt Niedersachsen nimmt den Fall sehr ernst. Wer den flüchtigen 30 Jahre alten Straftäter Chamil Gasanaliev erkennt, soll um Himmels willen nichts unternehmen: „Der Mann gilt als gewaltbereit und gefährlich.“ Gefährlich aber wird die Serie von Ausbrüchen und Fluchten beim Freigang inzwischen auch für die niedersächsische Landesregierung: Es entsteht der Eindruck, dass weder Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz den Strafvollzug noch Sozialministerin Cornelia Rundt den Maßregelvollzug unter Kontrolle haben.

Letztlich fällt es auch immer auf den Ministerpräsidenten Stephan Weil zurück, wenn es Negativschlagzeilen gibt bei diesem Thema. Und die häufen sich in diesen Tagen. Da ist der Tschetschene Gasanaliev, der in der Nacht zum Sonnabend mit einem aus Gartengerät gebauten Wurfanker und einem Seil aus Betttüchern filmreif aus dem Landeskrankenhaus Moringen entkommen ist. Dass der Mann – vermutlich seit dem späten Freitagabend – weg war, bemerkte das Personal erst am Sonnabendmorgen.

An diesem Donnerstag im Sozialausschuss schickte die verantwortliche Sozialministerin Rundt lieber ihren Staatssekretär Jörg Röhmann, statt selbst zu erklären, wie das passieren konnte. Und dann ist da noch die Frage, warum die Öffentlichkeit erst am Mittwoch dieser Woche informiert wurde von der Flucht eines Mannes, der immerhin verurteilt wurde für erpresserischen Menschenraub, gefährliche Körperverletzung und schweren Raub und der im Landeskrankenhaus wegen Drogensucht behandelt wurde.

Die Ministerin will ein „professionelles Risikomanagement“ einführen

Klärung erwartet die Opposition in Niedersachsen auch von Justizministerin Niewisch-Lennartz. Wieso ein 63 Jahre alter Sicherungsverwahrter aus der Strafanstalt Rosdorf ausgerechnet am 2.Oktober ausdrücklich zum Besuch der Einheitsfeiern in Hannover Ausgang bekam, ist nur schwer verständlich. Begleitet lediglich von einer Beamtin der Justizvollzugsanstalt, bestand der Mann im Gewimmel von Zehntausenden von Besuchern der Einheitsfeier auf einen Toilettenbesuch – und war verschwunden.

Und auch hier warnte die Polizei bei der Fahndung, niemand möge ihn aufhalten, eben weil er so gefährlich sei und als Intensivstraftäter gelte. Zwar hat die Polizei ihn inzwischen aufgrund eines Hinweises aus der Bevölkerung in Göttingen wieder gefasst. Und Ministerin Niewisch-Lennartz will jetzt ein „professionelles Risikomanagement“ aufbauen und verspricht: „Dabei muss die Sicherheit der Menschen im Zentrum stehen.“

Aber die Oppositionsparteien CDU und FDP fragen kritisch nach, warum erst jetzt das Justizministerium einheitliche Standards einführen will für die Ausgänge von Sicherungsverwahrten. Schließlich gab es in jüngster Vergangenheit weitere Fluchten von Sicherungsverwahrten beim Freigang, darunter auch der besonders spektakuläre Fall eines Mannes, der beim Freigang aus dem Gefängnis in Lingen am 30.Mai dieses Jahres ein 13-jähriges Mädchen vergewaltigt haben soll. Das Mädchen erstattete Anzeige, aber erst mehrere Tage später informierte die Polizei die Öffentlichkeit über den entflohenen Straftäter, der sich später selbst stellte.

Regelrecht veralbert fühlt sich die Opposition von der Ministerin im Falle des Freigängers, der den Tag der Deutschen Einheit zur Flucht genutzt hatte. Da nämlich kritisierte die Ministerin die Beamten, sie habe kein Verständnis für die Anstaltsleitung und deren Entscheidung, den Mann nach Hannover fahren zu lassen. Und die Ministerin versuchte Handlungsfähigkeit zu demonstrieren: „Der Fall wird auch personelle Konsequenzen haben.“ Sie werde neue Verantwortliche für die Abteilung für Sicherungsverwahrte bestimmen. Dann aber stellte sich heraus, dass der Posten des Abteilungsleiters sei Monaten vakant war. Der Verband der Strafvollzugsbediensteten empört sich über das Vorgehen der Ministerin, nennt deren Auftritte nicht nachvollziehbar: „Man könnte den Eindruck gewinnen, dass durch die skandalöse Öffentlichkeitsarbeit von Frau Niewisch-Lennartz von eigenen Problemen abgelenkt werden soll.“

Beruhigen wollte am Donnerstag Sozialstaatssekretär Röhmann: Er versicherte im zuständigen Ausschuss in Hannover den Abgeordneten, man werde Konsequenzen ziehen aus der Flucht des Straftäters. Klar ist, dass die Opposition das Thema auch bei der nächsten Plenartagung des Landtags wieder auf die Tagesordnung setzt mit dem Ziel, die beiden Ministerinnen zu attackieren und auch den Regierungschef Weil zu treffen.

Aus dem Maßregelverzug haben allein im laufenden Jahr 14 Patienten die Flucht geschafft oder sind beim Freigang untergetaucht. Einer davon ist bis heute auf freiem Fuß.