Aus den Augen, aus dem Sinn: Jedes Jahr verlieren Fischer Netze in der Ostsee. Als Geisternetze schweben sie durchs Wasser. Vor Rügen haben Forscher die dramatische Situation dokumentiert.
Stralsund. Sie sind mit Muscheln und Algen bewachsen und liegen wie ein Schleier über Wracks, verlorenen Ankern oder großen Steinen am Meeresgrund – Fischernetze, die in den vergangenen Jahrzehnten verloren gegangen sind. „Seit 60 Jahren wird auf den Meeren mit Kunststoffnetzen gefischt“, sagt der Vorsitzende des Vereins Archaeomare, Thomas Förster. „Anders als ihre Vorgänger verrotten die Nylon-Netze nicht und haben sich über die Jahrzehnte an Hindernissen gesammelt.“
Im vergangenen Jahr haben Taucher des Vereins zusammen mit dem Deutschen Meeresmuseum und dem Umweltverband WWF 28 Wracks um Rügen angetaucht. Die Tauchgänge waren eine Stichprobe mit alarmierendem Ergebnis: „An allen angetauchten Wracks hatten sich Netze verfangen“, sagt Förster, der hauptamtlich am Deutschen Meeresmuseum Stralsund arbeitet. Die Meeresbiologen vermuten, dass die Situation in anderen stark befischten Regionen der Ostsee nicht grundsätzlich anders ist als um Rügen und planen ähnliche Tauchgänge vor Usedom und in der Mecklenburger Bucht.
Verloren gegangene Fischernetze sind ein Teil des Müllproblems in allen Meeren, nicht nur in der Ostsee. Schätzungen des WWFs zufolge sind rund ein Zehntel des weltweiten Meeresmülls und damit 640.000 Tonnen Geisternetze. Der Umweltverband geht nach Angaben ihres Ostseebüro-Leiters Jochen Lamp von 5000 bis 10.000 Netzen oder Netzteilen aus, die allein jedes Jahr neu in der Ostsee landen. Der Archaeomare-Vorsitzende Förster formuliert es vorsichtiger, spricht von wenigen tausenden Netzen. „Wir wissen eigentlich gar nicht genau, wie viele Netze pro Jahr abhandenkommen“, sagt er. Denn eine Dokumentationspflicht für verlorene Netze gibt es bislang nicht.
Die Kunststoffnetze gehören neben verloren gegangenen Schiffsladungen, Plastikmüll von Stränden oder aus Flüssen zum unsichtbaren Zivilisationsmüll, der sich in den Meeren sammelt. Auch nach Jahrzehnten stellen die Netze eine Gefahr für die Meeresumwelt wie auch für die im Wasser lebenden Tiere dar – denn sie erfüllen noch immer ihren eigentlichen Zweck, das Fangen. „Vor allem bei Tauchgängen in den Wintermonaten haben wir in den Netzen Dorsche, Flundern und Seeskorpione gefunden“, berichtet Förster. Offenbar suchen die Tiere gerade in den kalten Monaten Zuflucht an schützenden Wracks. Die Netze werden dann dort zu tödlichen Fallen.
Nach Angaben des Umweltbundesamtes dauert es um die 450 Jahre, bis sich ein Produkt aus Plastik in der Umwelt zersetzt. Selbst danach sei es noch nicht weg, sondern könne in Form winziger Plastikpartikel mit gesundheitsschädlichen Zusatzstoffen wie Weichmachern von Muscheln und Plankton aufgenommen werden und in den Anfang der Nahrungskette gelangen. Auch scheuern die Netze in der Strömung an den Wracks und zerstören damit auch denkmalgeschütztes Kulturgut.
Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie hat vor der deutschen Ostseeküste Geisternetze an rund 100 Unterwasserhindernissen festgestellt. Die Experten des Deutschen Meeresmuseums gehen aber von einer deutlich höheren Zahl aus, da die Schifffahrtsbehörde nur jene Netze dokumentiert, die eine Gefahr für die Schifffahrt darstellen.
Derzeit werden für die Küste um Rügen und Usedom alle verfügbaren Ergebnisse aus Tauchgängen und Karten zusammengeführt, sagt Förster. Auch sogenannte „Hackerkarten“, in denen die Fischer in den vergangenen Jahrzehnten Hindernisse vermerkten, an denen sie Netze verloren, werden ausgewertet.
Im Spätsommer wollen der Verein Archaeomare, der WWF und Meeresmuseum mit der Bergung von Geisternetzen vor der deutschen Ostseeküste beginnen. Wie das geht, haben Umweltschützer vor Polen bewiesen. „Unsere WWF-Kollegen haben an nur 20 Tagen auf See rund sechs Tonnen Netze von Wracks und vom Meeresgrund geborgen“, sagt Jochen Lamp. Zum Einsatz kamen Taucher und eine so genannte Netzegge, mit der der Meeresgrund „abgehakt“ wird.
Meeresbiologen und Umweltschützer fordern, dass Netze mit akustischen Signalgebern ausgestattet werden, damit sie nach dem Verlust geortet und eingesammelt werden können. „Die Rückholbarkeit von Netzen ist entscheidend“, sagt Lamp. Anders lasse sich das sich von Jahr zu Jahr verschärfende Problem nicht in Griff bekommen.
Das Meeresmuseum zeigt von Donnerstag an eine Ausstellung, die über die Problematik der Geisternetze informiert. Unter anderem wird dort ein „Vogelfelsen“ gezeigt, der die Situation auf der Nordsee-Insel Helgoland beleuchtet. „Die Basstölpel bauen dort ihre Nester nicht mehr mit Tang, sondern zunehmend mit Resten aus den Kunststoffnetzen“, sagt Förster.