Die Bewohner von Lauenburg und Hitzacker dürfen wieder in ihre Häuser - und alle helfen sich gegenseitig. In der Krise entsteht ein neues Wir-Gefühl.
Lauenburg. Es riecht nach Fisch, wie an einer Strandpromenade an der See. Der Wind fegt so kräftig wie an der Küste durch die Elbstraße in Lauenburg, die Blätter rauschen, von den Ästen zwitschern Vögel. Bis zum Wochenende waren sie die einzigen, die in der Gasse Geräusche gemacht haben. Jetzt sind die Menschen zurück. Wegen des höchsten Hochwassers aller Zeiten ist der Straßenzug am Fluss zum ersten Mal in der 800-jährigen Geschichte der Stadt evakuiert worden. Nun beginnt das Aufräumen.
Aus Feuerwehrschläuchen sprudelt Wasser auf das Kopfsteinpflaster, wo vor ein paar Tagen noch die Elbe gluckerte. Nur wer vorher mit der Feuerwehr gesprochen hat, darf seinen Keller leer pumpen. Grund ist der Druckausgleich. Tom Reher von der technischen Einsatzleitung erklärt: "Wir versuchen, eine Balance zu halten zwischen dem Pegelstand der Elbe, den Kellern und der Kanalisation." Gibt es mehr als einen Meter Unterschied, kann das Probleme mit der Statik der teils jahrhundertealten Mauern machen. Ist ein Keller zu früh leer, wirkt der Druck der Elbe auf die Wände: 16 Tonnen pro Quadratmeter.
Auf den Gehwegen liegen Sandsäcke, nicht mehr zu Dämmen gestapelt, sondern als abholbereite Haufen. Andrea, 43, greift sich einen und wirft ihn vom Kellerfenster fort. Es ist nicht ihr Haus, sie selbst lebt ein paar Straßen höher am Hang. "Wir haben ein Team gebildet", erzählt sie mit freundlichem Gesicht, zieht sich die Gummihandschuhe von den Fingern und macht einen Moment Pause. "Per Handy verständigen wir uns, wo gerade Hilfe nötig ist. Da gehen wir dann hin. Die Nachbarschaftshilfe ist wirklich super." Das Team plant schon ein Grillfest, um die neue Gemeinschaft zu feiern.
Eigentlich hat Andrea nur einen Hund und eine Katze als Mitbewohner, in dieser Woche waren es drei Hunde und drei Menschen mehr: Die 43-Jährige hat ihr Haus zum Notfalllager gemacht.
Sie ist nicht die Einzige. 300 der mehr als 11.000 Lauenburger mussten Anfang der Woche ihr Zuhause verlassen, gerade einmal fünf haben in der vorbereiteten Notunterkunft in einer Turnhalle geschlafen. Alle anderen sind privat untergekommen in der Nacht, als die Polizei kam.
Es ist die Nacht zu Montag, kurz nach 23 Uhr. Sirenen heulen. "So muss es im Krieg gewesen sein", schießt es Andrea durch den Kopf, die als Altenpflegerin die Geschichten ihrer Patienten kennt. Menschen tapsen in Schlafanzug und Bademantel auf die Straße, schleppen in Plastiktüten ihr Nötigstes. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass auf einmal alles so schnell gehen muss. Sie dachten, sie hätten bis zum Morgen Zeit.
"Mir haben sich die Nackenhaare aufgestellt", erinnert sich Jeanette, 43, die bei Andrea untergekommen ist. "Es hieß nur: raus, raus, raus. Ich hab ein paar Sachen gerafft und bin gelaufen."
Wenn Menschen ihre Häuser verlassen müssen, wissen sie nicht mehr, wohin mit ihren Gedanken und Kräften, sagt Pastor Jürgen Hensel. "Eigentlich ist es jedem Menschen inne, sein Hab und Gut zu schützen. Das geht dann nicht mehr." Zwar seien die Lauenburger Hochwasser gewohnt, erklärt der Notfallseelsorger. "Aber dieses Mal wurde ein Pegel erwartet, den es noch nie gab. Und alle wussten: Es wird jeden treffen." Als am Sonnabend alle zurück durften, hat er Tränen der Freude genauso gesehen wie Tränen des Leids. "Wer selbst Glück hatte, weiß nicht: Darf ich mich freuen, wenn der Nachbar abgesoffen ist? Daraus entsteht eine große Solidarität."
Wie hoch die Schäden sind, ist noch nicht abzuschätzen. 170 Häuser haben Statiker und Bausachverständige untersucht, nur eins davon ist unbewohnbar. "Insgesamt haben die Häuser auf der Wasserseite natürlich mehr abbekommen", sagt Tom Reher. In Kneipen, Restaurants und Privathäusern steht die Elbe teils bis ins Erdgeschoss. Zu den Sachschäden kommen die Verdienstausfälle an Sonnentagen, die den Gastronomen ansonsten den Winter finanzieren. Unbeziffert sind auch die Lohnkosten all derer, die ehrenamtlich im Einsatz waren und sind.
Andreas Mitbewohner können am Sonntag entspannt sein, bei ihnen stehen nur die Keller voll Wasser. Und die sind entweder ohnehin ungenutzte Flutkeller oder leer geräumt. Ab heute stellt die Stadt Container an der Elbstraße auf, damit die Nachbarn Sperrmüll und verdorbene Lebensmittel entsorgen können. Strom soll es dann auch wieder geben, hofft man in der Einsatzleitung.
1200 Helfer waren am Tag nach der Evakuierung in Lauenburg im Einsatz, 400 an diesem Sonntag. Nach und nach ziehen sie in den nächsten Tagen ab. Trotz sinkender Pegel ist die Arbeit noch lange nicht beendet, die Gefahr weiterhin akut, sagt Tom Reher: "Jetzt heißt es, die Deiche zu sichern. Der Druck der Elbe ist hoch, der Pegel mit knapp neun Metern gefährlich." Der Katastrophenalarm gilt daher anders als im Landkreis Lüneburg weiter.
Erst bei sieben Metern kann nach den Menschen auch die Ruhe zurückkehren in die Elbstraße. Doch wird wohl allen Altstadtbewohnern in Lauenburg klar sein, was Andrea vom Team Nachbarschaftshilfe ausspricht: "Nach der Flut ist vor der Flut."