Der Forellenhof in Jesteburg hilft Kindern und Jugendlichen, ihre Ängste abzubauen. Sozialpädagogen helfen den Schulverweigerern.
Jesteburg. Mehmet, 13, ist stolz. Den Holzschrank, den er gerade selbst baut, will er seinem Bruder schenken. Der Junge ist stolz auf seine Arbeit. Hier in der Werkstatt fühle er sich wohl, erzählt er, viel wohler, als in der Schule. "Hier nervt mich niemand", sagt der Junge. Es ist nicht einfach gewesen, den Jungen dazu zu bewegen, an dem Projekt zur "schulischen Integration schuldistanzierter Kinder und Jugendlicher" des Landkreises Harburg teilzunehmen. Aber die Sozialpädagogen vom Forellenhof haben es geschafft, den 13-Jährigen, der vorher fast ein Jahr lang nicht zur Schule gegangen ist, einzubinden. Wenn das Projekt für Mehmet beendet ist, dann will er wieder in die Schule gehen, will einen Abschluss und eine Ausbildung machen. Das hat er sich fest vorgenommen.
Seit Wochen macht sich Mehmet jetzt jeden Morgen auf den Weg zum Forellenhof in Jesteburg. Ziel des Projektes ist es, den Kindern und Jugendlichen die Angst vor Schule, die Angst vor Mobbing, die Angst vor dem Versagen und die Wut auf das Schulsystem zu nehmen. Mehrere Wochen oder Monate, je nach Bedarf, kommen die Kinder und Jugendlichen aus dem ganzen Landkreis Harburg täglich zum Forellenhof, arbeiten dort mit Sozialpädagogen und Lehrern an ihrem Schulproblem.
Der häufigste Grund für chronische Schulabstinenz sind massive psychosoziale Probleme in den Familien, ein Problem, wissen die Sozialpädagogen, das sich in allen Gesellschaftsschichten zeigt und keineswegs vom Bildungsniveau der Eltern abhängt.
Ortrud Stein vom Jugendamt des Landkreises Harburg ist zuständig für dieses Projekt. "Es war uns irgendwann klar, dass wir allein mit Bußgeldverfahren gegen Schüler oder Eltern nichts bewegen würden, insbesondere nicht bei den Kindern und Jugendlichen, die zu den wirklich harten Fällen gehören. Aus diesem Grund haben wir gemeinsam mit dem Forellenhof dieses Projekt aufgebaut und gestartet."
Das Problem der Schulverweigerer wird nicht nur bundesweit, sondern auch im Landkreis Harburg immer massiver. Im Jahr 2009 hat der Landkreis Harburg 166 Bußgeldverfahren wegen Schulabstinenz eingeleitet. Im ersten Halbjahr dieses Jahres waren es bereits 108 Verfahren. Und die Dunkelziffer der Schulverweigerer im Landkreis Harburg, sei, so Stein, mit Sicherheit weitaus höher. Gemeinsam mit dem Leiter des Forellenhofs, dem Sozialpädagogen Kay Bergen, seinem Stellvertreter Wolfram Döller, und dem Sozialpädagogen und Tischler Thomas Winter begleitet Ortrud Stein das Projekt in der Jugendhilfeeinrichtung Forellenhof. Sechs Plätze stehen in der Jesteburger Einrichtung für Schulverweigerer zur Verfügung.
Fehlt ein Schüler unentschuldigt mehr als zehn Tage, setzt sich die Schule mit dem Jugendamt in Verbindung. Das Jugendamt nimmt Kontakt zur Familie auf und schaltet gegebenenfalls einen Sozialarbeiter ein. Das Bußgeld, das verhängt werden kann, löst in den meisten Fällen das Problem der Schüler nicht. Ein Sozialpädagoge versucht, die Ursache für die Schulabstinenz heraus zu finden. Das ist mitunter nicht einfach. Denn meist ist es selbst den Schulverweigerern nicht klar, warum sie nicht mehr zur Schule gehen wollen.
Neben der Werkstatt, in der Mehmet seit Tagen an seinem Schrank baut, lernen Jan, Meike und Anna gerade mit der Lehrerin Annika Thode Mathe. Auch die drei 16 Jahre alten Jugendlichen nehmen an dem Integrationsprojekt teil. Jan und Meike waren vorher mehr als ein Jahr nicht mehr in der Schule. Auf die Frage, warum sie sich geweigert hätten, die Schule zu besuchen, wissen die beiden keine richtige Antwort. Anna stand kurz vor den Prüfungen zum Realschulabschluss. Sie begründet ihre Schulabstinenz unsicher mit Prüfungsangst, aber genau wisse sie das auch nicht, sagte sie.
Annika Thode: "Das ist oft so. Aber klar ist, diese Jugendlichen müssen einem enormen Druck ausgesetzt sein, wenn sie sich so massiv gegen die Norm benehmen und nicht mehr zur Schule gehen. Wir können hier natürlich keinen Ersatz für die reguläre Schule sein, auch wenn wir versuchen, den Jugendlichen versäumten Stoff beizubringen. Mein Ziel ist es, den Jugendlichen zu zeigen, wie sie selbstständig lernen können. Hier dürfen sie ein wenig das Tempo vorgeben." Annika Thode unterrichtet sehr gerne in diesem Projekt, "und ich finde es sehr wichtig, dass es solche Projekte gibt, um diese Jugendlichen aufzufangen.
Die gute Teamarbeit zwischen Lehrer und Sozialpädagogen ist ausschlaggebend für den Erfolg des Projektes", sagt die Diplomhandelslehrerin. Als Anna nicht mehr zur Schule gehen wollte, haben ihre Eltern das Jugendamt eingeschaltet. "Ich bin drei Monate nicht in der Schule gewesen. Den Kontakt zu meinen Mitschülern habe ich abgebrochen. An manchen Tagen fällt es mir schwer, herzukommen, aber eigentlich finde ich es sehr gut hier", sagt Anna, die seit drei Wochen an dem Projekt teilnimmt. Und Meike, die neben ihr sitzt, erzählt aus ihrer Schulverweigerer-Karriere: "Es fing damit an, dass ich nicht mehr regelmäßig zum Unterricht gegangen bin. Dann ging ich mal für zwei Stunden hin, haute aber danach wieder ab. Dann bin ich überhaupt nicht mehr in der Schule gewesen." Die Gesamtschülerin spricht von privaten Problemen, die immer erdrückender geworden seien. Ihren Mitschülern habe sie sich nicht anvertraut.
Anna kommt seit drei Monaten zum Forellenhof. Jetzt hat sie wieder Pläne: Sie wolle ihren Hauptschulabschluss nachholen, danach eine Ausbildung zur Friseurin machen. Das sei die Voraussetzung für ihren Traumberuf - Visagistin. Thomas Winter: "Keinem der Schulverweigerer geht es gut. Sie alle leiden sehr unter ihrem Scheitern in der Schule. Wenn Kinder Schule permanent als Scheitern erleben, resultiert daraus ein völlig zerknicktes Selbstvertrauen. Wir können hier beobachten, wenn die ersten Gespräche mit den Jugendlichen geführt wurden, dass sie dann regelmäßig herkommen. Entscheidend für den Erfolg des Projektes ist es, sie aus ihrer vertrackten Situation heraus zu holen." Kay Bergen sagt: "Die erste Überraschung für die Jugendlichen ist, dass wir nicht locker lassen, wenn sie hier nicht erscheinen. Es kommt auch vor, dass wir zu ihnen nach Hause fahren, um mit ihnen zu reden. Für einige ist dieses Gefühl, dass sich jemand wirklich um sie bemüht, Interesse an ihrem Problem zeigt."
Mehr als ein Jahr lang ist Jan nicht in der Schule gewesen, hat sich alleine oder mit Freunden auf der Straße herum getrieben. Das Instrument Bußgeld funktionierte bei ihm schon längst nicht mehr. "Ich hatte viele Probleme, dann lief es in der Schule nicht mehr gut. Dann sind wir auch noch umgezogen, danach ging ich gar nicht mehr hin. Ich habe viel draußen rum gehangen. Mir war eigentlich alles egal. Dabei ging es immer weiter bergab. Hier ist es anders. Man fühlt sich hier nicht bedrängt, und ich kann nur jedem, der Probleme hat, raten, bei diesem Projekt mitzumachen."
Wie Anna will auch Jan nach der Zeit im Forellenhof erst mal seinen Hauptschulabschluss nachmachen. Alle drei wollen richtig durchstarten, nach ihrer Zeit im Jesteburger Forellenhof.