Wer kennt es nicht, das Niederegger Marzipan aus Lübeck? Neuerdings findet auch das süße Naschwerk der Hanse-Schwester reißenden Absatz.

Stralsund. Theorie und Praxis liegen im Konditoreigewerbe manchmal weit auseinander. Dass Marzipan aus Mandeln und Zucker besteht, weiß jedes Kind. Doch bei dem süßen Naschwerk sei es ähnlich wie bei der Cola, schmunzelt Konditormeisterin Nicole Raddatz: „Die Feinheiten in der Rezeptur entscheiden über Geschmack und Qualität.“ Wochenlang testete die 26-jährige Stralsunder Konditorin sechs verschiedene Mandelsorten, zerkleinerte die Früchte nach unterschiedlichsten Methoden und setzte dem Brei Wasser oder auch Gewürze zu. Vor ungefähr einem Jahr – im September 2009 – waren die selbstkritische Frau und die Tester zufrieden: Das Stralsunder Marzipan mit dem Namen „Sumara“ war geboren. Das Rezept wird seitdem streng gehütet. Nur sie und der Eigentümer des Stralsunder Hotels „Am Jungfernstieg“, Thomas Eberl, kennen die wahre Zusammensetzung. Die Stralsunder haben sich für ihre Mischung ein Reinheitsgebot auferlegt – der Mandelanteil muss 70 Prozent betragen.

In der Marzipan-Manufaktur, die sich neben der Hotelküche befindet, hängt ein betörend-schwerer Duft: Auf dem Tresen liegen drei jeweils sechs Kilogramm schwere Blöcke aus frisch geröstetem, warmen Mandelbrei. Rund 24 Stunden muss die Rohmasse ruhen, bevor sie am Folgetag von Raddatz und ihrer Kollegin per Hand in wohlschmeckende „Kalorienbomben“ weiter verarbeitet werden kann. Marzipan-Brote, Pralinen oder „Koggensiegel“ gehören zu den Standards der Stralsunder Konditorin. Derzeit bastelt Raddatz an der perfekten Mischung für einen Gewürzstollen ganz aus Marzipan – die Stollen sollen die Höhepunkte der diesjährigen Weihnachtsproduktion werden, die in diesen Tagen angelaufen ist.

Dass die Stralsunder mit ihrer Kreation der großen Lübecker Hanse-Schwester mit deren jahrhundertelanger Marzipan-Tradition Konkurrenz machen wollen, weist Hotel-Geschäftsführer Marcus Borowski entschieden zurück. „Wir wollten etwas produzieren, mit dem sich die Stralsunder identifizieren können“, sagt der Hotelchef. Inzwischen hat sich das Marzipan neben dem Bismarck-Hering als Gastgeschenk für prominenten Besuch etabliert. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erhielt im vergangenen Jahr einen Adventskalender mit Marzipanpralinen. Auf dem Mecklenburg-Vorpommern-Tag in Schwerin fanden die Köstlichkeiten reißenden Absatz.

Porträt: Der Niederegger-Chef

Ganz ohne historische Wurzeln ist auch das Stralsunder Marzipan nicht, wie Raddatz berichtet. Die Mandeln, ursprünglich aus Asien stammend, wurden über die Hansehäfen importiert. Wegen der ätherischen Öle und der „lösenden Wirkung“ bei Verstopfung und Blähungen sei in früheren Jahrhunderten auch in Stralsunder Apotheken aus teuren Mandeln ein Art Marzipan produziert und dort als Arzneimittel verkauft worden.

Das Geschäft in der Stralsunder Werkstatt boomt: Allein in diesem Jahr wurden rund zwei Tonnen Marzipan in Stralsund hergestellt. Neben den Klassikern produziert die Konditorin auch ganz individuelle Marzipan-Kreationen auf Käuferwunsch: Einer Rentnerin schuf sie als Geburtstagsgeschenk für deren Gatten einen ganzen Schrebergarten mit Marzipan-Möhren, Hasen und Laube. Für Brautpaare fertigt Raddatz eine spezielle Hochzeitstorte nach einem Foto des glücklichen Paares. Mittlerweile denken die Marzipanmacher darüber nach, die Manufaktur aus dem Hotel auszulagern, um die starke Nachfrage decken zu können. An der Handfertigung der süßen Köstlichkeit wollen sie auch in neuen Räumen festhalten.