Claudine Nierth aus Raa-Besenbek kämpft seit 15 Jahren als Vorstandssprecherin des Vereins Mehr Demokratie für Mitspracherechte.
Elmshorn. Als ehemalige Waldorf-Schülerin und Dozentin für Eurythmie kann sie ihren Namen tanzen. Am liebsten aber bewegt sich Claudine Nierth auf dem großen Parkett der Demokratie. Schließlich sei es auch eine künstlerische Frage, ob die gesellschaftlichen Verhältnisse stimmig sind, sagt die 44-Jährige. Seit 15 Jahren ist sie Bundesvorstandssprecherin des Vereins Mehr Demokratie.
Diese 6000 Mitglieder zählende Organisation setzt sich seit 24 Jahren für mehr Bürgerbeteiligung ein. Sie hat die Bürgerentscheide in Hamburg, Bayern und Thüringen durchgesetzt, das Wahlrecht in der Hansestadt zur Reform getrieben. In Hamburg können die Wähler jetzt bis zu fünf Stimmen einem oder mehreren Kandidaten geben und so die Landeslisten der Parteien verändern. Aktuell hat die Gruppe zwei Volksinitiativen in Schleswig-Holstein mit jeweils 25 000 Unterschriften eingereicht, die der Landtag jetzt formell als begründet angenommen und über die er nun zu befinden hat.
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So sollen die Schleswig-Holsteiner künftig in ihren Kommunen auch über finanzielle und baurechtliche Fragen mitentscheiden dürfen. Bürgerentscheide über Grund- und Gewerbesteuern oder die Ansiedlung eines neuen Einkaufszentrums sind bislang nicht erlaubt. Darüber entscheidet noch der Gemeinderat exklusiv.
In dem zweiten Begehren fordert der Verein die Landesregierung auf, über den Bundesrat einen bundesweiten Volksentscheid einzuführen. Dann könnten die Bundesbürger auch über die Griechenland-Hilfe oder den Afghanistan-Einsatz entscheiden. Dafür bedarf es aber einer Zwei-Drittel-Mehrheit, um das Grundgesetz zu ändern.
"Unser Grundgedanke ist, dass jeder Bürger das Recht hat, seine Ideen und Vorschläge vorzubringen, wie das Gemeinwohl bereichert werden kann", sagt Claudine Nierth, die mit ihrer Familie in einem alten Bauernhaus direkt hinter dem Deich in Raa-Besenbek bei Elmshorn lebt. "Wir brauchen die Öffnung hin zu einer Intelligenz der vielen." Wer sage denn, dass die 620 Bundestagsabgeordneten allein den Stein der Weisen kennen. Gefährlich sei die Tendenz, "dass immer mehr von immer wenigeren entschieden wird", warnt die Bürgerrechtlerin. "Dieses Demokratie-Defizit führt zu einer Schwächung der Parlamente." Zum Glück habe das Bundesverfassungsgericht das Vorhaben gestoppt, Abstimmungen über die Euro-Krise am Bundestag vorbei von einem kleinen Kreis entscheiden zu lassen.
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Seit 1946 hat es in den Bundesländern 269 direktdemokratische Verfahren gegeben. 75 davon gelangten zu Volksbegehren und 19 zum Volksentscheid. Dazu kamen rund 5000 Initiativen auf kommunaler Ebene, die zu 3000 Bürgerentscheiden führten. Der Wunsch der Bürger, über wichtige gesellschaftliche Dinge mitzuentscheiden, steigt. 2011 wurden 18 neue Volksinitiativen gestartet. 33 Verfahren laufen noch, drei mehr als im Jahr davor. Da will eine Initiative kostenlose Schulbusse haben, eine andere die Speicherung von CO2 in der Erde verhindern.
Wenn der Landtag in Kiel die Ausweitung des Bürgerentscheids auf kommunale Haushalts- und Bauleitplanung ablehnen sollte, "starten wir ein Bürgerbegehren", kündigt Claudine Nierth an. Dann müssten im ersten Schritt fünf Prozent der Wahlberechtigten, etwa 110 000 Bürger, diese Initiative unterstützen, um zu einem Volksentscheid zu kommen. Damit der dann erfolgreich ist, muss mindestens ein Viertel der Wahlberechtigten abstimmen und davon die Mehrheit dafür sein. Die Hürde des Quorums, also eine Mindestbeteiligung, sei "eine deutsche Spezialität", die abgeschafft gehöre, kritisiert Claudine Nierth. Andere Länder wie die Schweiz und die USA kennen die nicht. Aber auch in Bayern, Hessen und Sachsen gibt es kein Quorum. Diese Bedingung setze voraus, dass die schweigende Mehrheit gegen das Begehren sei. "Das ist vollkommen undemokratisch und verzerrt jedes Wahlergebnis."
Jüngste Erfolge dieser Basisdemokratie, die die Schulreform in Hamburg gekippt und den Wutbürger gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufgebracht hat, wo der Volksentscheid aber gescheitert ist, hätten die Politik vorsichtig gemacht, sagt Claudine Nierth. "Es gibt jetzt einen gesunden Respekt vor Bürgerbegehren, gerade in Hamburg." Für die Regierungen werde es schwieriger, den Bürgerwillen zu ignorieren. Wie Ende der 1990er-Jahre in Schleswig-Holstein, als der Landtag in den Sommerferien kurzerhand das Votum der Bürger gegen die Rechtschreibreform rückgängig machte. Oder als der Hamburger Senat gegen den Wählerwillen die Privatisierung der Krankenhäuser durchsetzte. "Der Bürger ist heute sehr sensibel, wenn er sieht, dass seine Rechte mit Füßen getreten werden", sagt Nierth. Für die Demokratie sei "ein Bürger, der sich abwendet, viel gefährlicher als einer, der aufbegehrt".
Wissenschaftliche Studien zeigten, dass der aufgeklärte Bürger viel verantwortungsbewusster mit Steuergeldern umgehen würde, wenn er denn gefragt wird, weiß die Chef-Sprecherin für mehr Bürgerbeteiligung. "Wir verändern alle Dinge jeden Tag. Warum nicht auch unsere Demokratie? Gesetze, die zehn Jahre lang gut waren, müssen mal überdacht werden können", ist ihr Credo. "Wichtig ist nur, dass dies auf Augenhöhe geschieht, Parlamente und Volksentscheide gleichrangig sind."