Wohnungsbau werde durch Bürgerbegehren verhindert, klagt auch die Wirtschaft. Die Initiative Mehr Demokratie sieht das allerdings anders.
Hamburg. An der Wand hängt noch ein großes Holsten-Leuchtschild, früher bekamen hier in der kargen Halle an der Harkortstraße die Brauerei-Mitarbeiter ihren Hausausschank. Heute ist das Gebäude das neue Info-Zentrum für das riesige Neubauprojekt Neue Mitte Altona, wo Hamburgs Oberbaudirektor Jörn Walter sich in neuen Formen der Bürgerbeteiligung übt, damit der Bau von bis zu 6000 Wohnungen auf der Brachfläche nicht wie bei Stuttgart 21 im Anwohnerprotest erstickt. Immerhin geht es um das größte Bauprojekt Hamburgs nach der HafenCity.
Doch das Interesse ist verhalten: Knapp 100 Teilnehmer sind gekommen, die meisten jenseits der 40. Mancher der aufgebauten Stühle ist leer geblieben und die Diskussion zäh. Es geht um die personelle Zusammensetzung eines sogenannten Bürgergremiums, das künftig die Planung begleiten soll. "Eine völlig neue Form wird das, auch so etwas wie ein Experiment für uns", sagt Walters Mitarbeiter Johannes Gerdelmann. Eine Art beratender Aufsichtsrat für die Stadtentwicklungsbehörde solle das Gremium werden, das sowohl Kontrolle ausüben als auch Vertrauen schaffen soll zwischen Verwaltung, Politik und Bürgern.
Und daran hapert es in den vergangenen Jahren oft in Hamburg. Immer wieder machen Bürgerbegehren Front gegen neue Projekte, bisher in insgesamt 89 Fällen. "Bürgerbegehren verhindern den Wohnungsbau", zürnt daher jetzt Joachim Wege, Direktor des Verbandes Norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW). Die Wulffsche Siedlung in Langenhorn, im Buchenhofwald in Iserbrook oder beim Freibad Ohlsdorf - immer wieder werde der Bau notwendiger Wohnungen verhindert oder verzögert, klagt der VNW und fordert gar, dass Bürgerentscheide gegen Bauleitpläne per Gesetz ausgeschlossen werden müssen. Grundeigentümer wie Anwohner hätten Anspruch auf rechtstaatliche Verfahren und "nicht auf Entscheidungen von Zufallsmehrheiten".
+++ Nirgends gibt es so viele Proteste wie in Wandsbek und Altona +++
+++ 79 Bürgerbegehren und zehn Bürgerentscheide +++
"In den vergangenen zehn Jahren sind nur ein bis zwei Prozent des geplanten Wohnungsneubaus in Hamburg durch Bürgerentscheide verhindert worden. Das ist also eine vernachlässigbare Größe", entgegnet Manfred Brandt vom Verein Mehr Demokratie trocken. Brandt ist ein nüchterner Mensch, den nichts wirklich aus der Ruhe zu bringen scheint. Für alle, denen es um schnelle Planungsprozesse in der Metropole geht, ist der Agrarwissenschaftler aus Moorburg ein rotes Tuch. Brandt und seine Mitstreiter haben der Stadt Ende der 90er-Jahre per Volksentscheid die Einführung von Bürgerbegehren und -entscheiden beschert. Auch die Wahlrechtsreform mit der Einführung von Wahlkreisen sind auf Initiative von Brandts Verein vom Volk beschlossen worden. Der Mann hat mehr Einfluss auf das politische System der Stadt genommen als die meisten Politiker. Es lohnt sich also, seinen Argumenten zuzuhören.
"In der Schweiz führen nur etwa 30 Prozent der Volksabstimmungen zum Erfolg. In Hamburg werden dagegen fast alle Bürgerentscheide angenommen. Da läuft etwas schief", sagt Brandt. Ursache ist auch für Brandt eine "Vertrauenskrise". Es störe ihn - und das klingt aus seinem Mund doch eher überraschend -, dass es in Hamburg so wenig gelinge, Vertrauen in die Vorschläge der Verwaltung oder der jetzigen SPD-Mehrheit zum Beispiel bei Neubauvorhaben zu erlangen. "Das Wichtigste ist der Dialog", sagt er knapp. Bevor es überhaupt zu einem Bürgerbegehren komme, müssten Politiker und Bürger miteinander sprechen. "Die Feindbilder müssen abgebaut werden." Auch der Mann von Mehr Demokratie setzt auf frühzeitige Moderation in einem ergebnisoffenen Verfahren, bevor es zu einer Abstimmung kommen kann. Und dann noch ein erstaunlicher Satz vom "Vater der direkten Demokratie" in Hamburg: "Ein Bürgerbegehren ist eine Notlösung." Dann nämlich, wenn die Verständigung zwischen Politik und Bürgern gescheitert ist.
Die fünf Fraktionen in der Bürgerschaft - SPD, CDU, GAL, FDP und Linke - wollen bis Ende des Jahres einen Entwurf für ein Bürgerentscheidsgesetz vorlegen. Wie berichtet, setzen auch die Abgeordneten auf einen Ausbau der Moderation und Schlichtung bei der Bürgerbeteiligung, um Konflikte im Vorfeld zu minimieren. Wenn die Parlamentarier beraten, sitzt einer immer mit am Tisch: Manfred Brandt. Die Landespolitiker sind aus Schaden klug geworden: Statt gegen den Verein Mehr Demokratie gehen sie jede Reform der Volksgesetzgebung lieber gleich mit den Aktivisten an - auch eine Art eingebauter Moderation.
Das ist auch der Grund, warum es keine Quoren bei Bürgerentscheiden geben wird. SPD und CDU sind für den Einbau dieser Erfolgshürden, um zu verhindern, dass sich eine Minderheit vor Ort gegen das Gemeinwohl durchsetzt - zum Beispiel beim Wohnungsbau. Die Union ist für ein Teilnahmequorum von 20 Prozent der Wahlberechtigten eines Bezirks bei Bürgerentscheiden. Die SPD wollte ein Zustimmungsquorum von 20 Prozent, damit ein Bürgerentscheid verbindlich ist, also vom Bezirk übernommen werden muss. Doch dies verhinderte Brandt. "Quoren würden das Instrument Bürgerentscheid beerdigen", sagt er kategorisch.
Die Erfolgshürden würden dazu führen, dass "das Ringen um Mehrheiten als ein Grundprinzip der Demokratie unterlaufen" würde. Wenn eine Initiative zwar die Mehrheit der Abstimmenden überzeuge, aber das Quorum verfehle, dann habe die Entscheidung "keine friedensstiftende Wirkung". Im Übrigen seien Quoren bei Plebisziten ein deutscher Sonderweg.
Quoren würden auch dazu führen, dass bestimmte Anliegen der Bürger nie eine Chance auf Erfolg hätten. Brandt nennt als Beispiel den Bürgerentscheid über den Verbleib Finkenwerders beim Bezirk Mitte. Das interessiere nur die Finkenwerder Bürger, die aber nur einen kleinen Teil der Bevölkerung des Bezirks Mitte ausmachten. "Ein Zustimmungsquorum von 20 Prozent wäre nie zu erreichen gewesen", sagt Brandt.
Doch dieses Argument lässt sich auch umdrehen. An der Entscheidung über den Bebauungsplan Langenhorn 73 (die Wulffsche Siedlung, die Red.) hatten sich nur rund 14 Prozent beteiligt. Rund zehn Prozent der Wahlberechtigten votierten für den Bürgerentscheid und damit war das Neubauprojekt gekippt. Der großen Mehrheit im Bezirk Nord war das Projekt offensichtlich egal, sie stimmten nicht ab. Die Wulffsche Siedlung ist ein lokales, stadtteilbezogenes Thema. Hat hier also das Interesse einiger weniger das Gemeinwohl - mehr Wohnungsbau angesichts von Wohnungsmangel - ausgehebelt? "Ich bin gegen den Begriff Partikularinteresse", sagt Brandt. Es gebe das Gemeinwohl einer Straße, eines Stadtteils, eines Bezirks oder der gesamten Stadt. Das klingt dann doch eher vage.
Unter den Verfassungsexperten der Bürgerschaft wurde darüber diskutiert, als Ausweg aus diesem Dilemma "Stadtteilentscheide" einzuführen. Doch die Bedenken sind auch offenkundig: Wenn etwa nur die Volksdorfer über ein Bauprojekt in Volksdorf entscheiden, dann ist dem St.-Florians-Prinzip Tür und Tor geöffnet. "Stadtteilentscheide schaffen mehr Probleme als Lösungen", sagt auch Brandt. Gegen solche Entscheidungen spreche, dass die Bezirksversammlungen zum Beispiel Bebauungspläne aufstellen und damit eine größere Legitimation haben als Stadtteilentscheide.
Frühzeitige Bürgerbeteiligung, heißt daher in Hamburg das neue Zauberwort. Planungswerkstätten, Workshops, Bürgerforen, Zukunftspläne, Anhörungen - die Liste der Veranstaltungen ist lang, mit denen der Bürger eingebunden werden soll. Ob bei der Uni-Verlagerung in Eimsbüttel oder jetzt eben mit dem neuen Bürgergremium für die Neue Mitte Altona.
Wenn die Hamburger Politik nun durch diese verschiedenen Formen der vorzeitigen Bürgerbeteiligung einen Ausweg sucht, basiert diese Entwicklung durchaus auf einer wissenschaftlichen Basis. Neue Formen der "Integration der Bürger in die Entscheidungsfindungsprozesse" hätten sich vielfach - und nicht nur in Deutschland - als hilfreich erwiesen, schreibt etwa der Hamburger Politikwissenschaftler Gary S. Schaal in einem Fachaufsatz. Gerade die Diskussion im "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" könnte die Akzeptanz politischen Outputs erhöhen. Doch es bleibt ein schwieriges Geschäft und manchmal auch ein verwirrendes. Im Bezirk Altona etwa, einem Bezirk mit besonders vielen Bürgerbegehren, gibt es derzeit geradezu einen "Hype" von Beteiligungsverfahren, wie Bezirksamtsleiter Jürgen Warmke-Rose (parteilos) sagt. Tatsächlich sind dort im Westen der Stadt gleich mehrere Verfahren mit externen Moderatoren gleichzeitig von den Behörden auf den Weg gebracht worden. Mal geht es um Einzelfragen, dann gleich um einen Zukunftsplan für die nächsten Jahrzehnte und nun um die Neue Mitte. Und da kann es schon einmal zu Pannen kommen. So durften die Bürger fleißig kleine Kärtchen an Stellwände mit ihren Forderungen pinnen - doch dann tauchte knapp die Hälfte davon in einer Infobroschüre nicht auf. Eine Büropanne, ein peinlicher Fehler räumte die Stadtentwicklungsbehörde ein und gelobte Besserung. Doch für das Vertrauen in diese neuen Formen von Beteiligung war die Panne nicht besonders förderlich. Von "Erwachsenenbespaßung ohne wirkliche Entscheidungskompetenz", spricht daher Thomas Leske, ein Altonaer Bürger, der sich mit seiner Initiative "altopia" vielfach an den Diskussionsrunden zur Neuen Mitte beteiligt. Und der Altonaer Kommunalpolitiker Martin Scharlach (FDP) bemängelt einen weiteren Haken der vielen Beteiligungsverfahren: Sie hätten nämlich vielfach einen "Pferdefuß", sagt Scharlach. "Das Opfer der Begierde, der zu beteiligende Bürger mag einem nicht an die Angel gehen". Mit anderen Worten: Bei den Zukunftswerkstätten oder dem Bürgergremium drängeln sich die Anwohner nicht gerade.
Vielleicht liegt es daran, dass alle Verfahren eines gemeinsam haben: Eine rechtlich verbindliche Entscheidung, wie vom Verein Mehr Demokratie gefordert, können sie nicht treffen. Aber sollten sie das überhaupt? Der Politologe Prof. Wolfgang Gessenharter, verneint diese Frage. Eine frühzeitige Beteiligung ist notwendig, sagt er. Man müsse Konflikte ansprechen und Misstrauen abbauen und zu Empfehlungen kommen, die durch die Verwaltung nur mit gut begründeter Stellungnahme verworfen werden dürfe.
Aber eine verbindliche Entscheidung könnte auch ein Bürgergremium nicht treffen. Gessenharter: "Es ist nicht klar, für wen jemand spricht, man weiß nicht, wer da gekommen ist, es gibt keine demokratische Legitimation." Sollte die vorgezogene Beteiligung daher nicht zu einer Lösung führen - dann, so Gessenharter, müsse es eben doch irgendwann zu einem Bürgerentscheid kommen. Oder um es mit den Worten von Manfred Brandt zu sagen: "Der Knüppel Bürgerentscheid zwingt zum Kompromiss."