Es begann mit lichtempfindlichen Zellen, einer Art Prototyp für das Ziel, sehen zu können - und führte hin zu Wunderwerken der Optik.
Sie sind wie Schmucksteine in fremdartigen Fassungen, zum Staunen schön. Sie wecken Neugier, laden ein zur Kommunikation: Nichts ist so faszinierend wie die Vielfalt der Augen lebender Wesen. Charles Darwin stellte diese Vielfalt vor ein großes Rätsel.
"Die Annahme, dass das Auge mit all seinen unnachahmlichen Einrichtungen ... durch die natürliche Zuchtwahl (Auslese) entstanden sei, erscheint, wie ich offen bekenne, im höchsten Grade als absurd", schrieb er in seiner Abhandlung Organe von äußerster Vollkommenheit und Kompliziertheit .
Darwins Gegner an Universitäten und in Kirchen glaubten die Antwort zu wissen: Nur der Schöpfer habe solche Wunderwerke schaffen können; gerade die Augen seien der Beweis, dass Gott nur perfekte Geschöpfe in die Welt gesetzt habe.
Darwin glaubte das nicht. Aber wie konnte man belegen, dass die Vielfalt der Sehorgane aus Vorläuferformen hervorgegangen ist, womöglich aus einem einzigen unvollkommenen Prototyp? Wie hatten das Prinzip der Anpassung an Umweltbedingungen und die zufällige Paarung überhaupt so etwas wie Sehnerven hervorgebracht? Darwin vermutete, dass gewisse sensitive Bestandteile des Zellgewebes bei niedrigen Organismen "sich zu Nerven entwickelt haben". So könne aus einem Prototyp allmählich das entwickelte, differenzierte Auge etwa eines Tigers oder eines Raubvogels entstanden sein - und natürlich das des Menschen.
Heute würden Forscher des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie in Heidelberg Darwin beruhigend auf die Schulter klopfen: Schon gut, wir wissen, dass du recht hattest. Sie haben nämlich herausgefunden, "dass das Repertoire an fotorezeptiven Zellen, wie wir sie heute in den Augen von Mensch, Wirbeltieren, Fischen oder Insekten finden, schon beim letzten gemeinsamen Vorfahren vorlag", erklärt der Biologe Detlev Arendt.
Den Beweis fand das Wissenschaftler-Team in Platynereis dumerilii , einem etwa fünf Zentimeter langen borstigen Seeringelwurm. Die Vorfahren dieses lebenden Fossils sahen vor etwa 600 Millionen Jahren schon genauso aus wie der Wurm heute. Zum einen entdeckten die Forscher in seinem Gehirn ein Opsin, ein lichtempfindliches Molekül, das dem Opsin in den Zapfen- und Stäbchenzellen der menschlichen Netzhaut auffallend ähnlich ist. Das bedeutet, dass die Zellbausteine der entwickelten Augen von Wirbeltieren schon in einer urzeitlichen Population von Würmern vorhanden waren.
Zum Zweiten "sieht" der Wurm selbst mit einem anderen Typ lichtempfindlicher Zellen, die nicht zum Erkennen von Gegenständen dienen, sondern nur eine Art diffuser Tag- und-Nacht-Erkennungsdienst sind. Sie haben sich bei wirbellosen Tieren wie den Insekten durchgesetzt - aber auch sie gibt es beim Menschen. In Platynereis dumerilii sind also zwei Seh-Potenziale angelegt, die in der Evolution verschiedene Wege einschlugen.
Wie das kam, erläutert der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer in seinem neuen Prachtband "Das große Buch der Evolution" wunderbar anschaulich. Wahrscheinlich existierten lichtempfindliche Zellen schon vor mehr als einer Milliarde Jahren in einer Zeit mit dem ungemütlichen Namen Proterozoikum. Es begann mit Organismen, die mithilfe solcher Zellen Sonnenlicht aufnehmen und chemisch in Energie umwandeln konnten, zum Beispiel zum Aufbau von Nährstoffen. Folglich versuchten die Organismen, sich zum Licht hin zu bewegen. Das ging am besten, wenn sie torpedoförmige Körper entwickelten mit den Lichtrezeptoren an der Spitze. Bei einigen bildeten sich Lichtzellenhaufen an mehreren Stellen, etwa paarweise angeordnet; manche lagen geschützt in Hautvertiefungen wie in einem Becher.
Der nächste Schritt über mehrere Hundert Millionen Jahre bestand darin, das Licht zu fokussieren. Je tiefer der Becher, desto präziser lässt sich die Richtung des Lichteinfalls bestimmen. Organismen, bei denen diese Einfallsöffnung besonders eng war, lokalisierten das Licht am besten. Ihr winziges Lochauge entsprach schon einer Camera obscura. Um das Loch zu schützen und gleichzeitig das Bild "scharf" zu stellen, lag es nahe, dass eine Art Linse entstand, etwa aus einem transparenten Stück Haut.
Wir befinden uns jetzt irgendwann im Kambrium vor rund 505 bis 520 Millionen Jahren, als sich die wichtigsten Tierstämme herausgebildet hatten. Ihre Sehapparate waren etwa so weit entwickelt wie beim Borstenwurm. Es ging jetzt darum, mit verbesserten Lichtrezeptoren verschiedene Helligkeitsstufen, Bewegungen von Objekten und verschiedene Formen zu identifizieren. Das Zuschalten eines verarbeitenden Nervensystems wurde damit unvermeidlich.
Wie viele Entwürfe von Rezeptor- und Nervenzellen die Natur getestet hat, ist nicht bekannt. Logisch wäre folgende Anordnung: Das Licht fällt durch Hornhaut, Pupille und Linse, dann auf die lichtempfindlichen Rezeptoren und dann auf die Nervenzellen, die die Informationen ans Gehirn weiterleiten.
Frappierenderweise ist es anders: Die Sehzellen der Menschen- und Tieraugen befinden sich hinter den Nervenzellen, dem Licht abgewandt.
Das bedeutet: Die Evolution strebt keine 1:1-Abbildung an, sondern schaltet sortierende und interpretierende Nervenzellen davor. Ebenso wie bei den Vögeln oder den Krokodilen fällt beim Menschen ein vollständiges Abbild der Umgebung auf die Netzhaut - aber weitergeleitet wird nur eine Auswahl an Informationen.
Warum? Das Nervensystem ist kein "bewusster" Zensor. Seine Entwicklung stellte nur sicher, dass uns bestimmte Informationen garantiert nicht entgehen. Dazu spezialisierten sich die Nervenzellen: zäpfchenförmige reagieren auf bestimmte elektromagnetische Wellenlängen des Lichts und identifizieren damit Farben und Farbkontraste; stäbchenförmige reagieren auf Helligkeitsstufen; wieder andere Zellen sind Bewegungsmelder. Ziel der Spezialisierung war nicht, uns die Schönheit der Welt sichtbar zu machen. Belohnt wurden Strukturen, die beim Überleben helfen.
Ein gutes Beispiel ist das Farbensehen, das sich erst vor rund 35 Millionen Jahren bei den Primaten herausgebildet hat. Der genetische Bauplan für das Opsin in den Sehzellen wurde so variiert, dass drei Zäpfchentypen entstanden, die jeweils auf die Lichtwellenlängen für Rot oder Grün oder Blau reagieren. Viele Tierarten hat die Evolution mit mehr Farbrezeptoren ausgestattet. Es gibt Schmetterlinge mit fünf und Krebse sogar mit acht Farbrezeptorentypen. Hunde und Rinder haben nur zwei Zapfentypen und sind rot-grün-blind.
Diese Augenstruktur ist eins von mehreren Erfolgsmodellen in der Welt. Sogar bei einigen Bewohnern der lichtlosen Tiefsee existiert das Zäpfchen-Stäbchen-Modell noch. Man schließt daraus, dass diese Tiere einst aus lichtvollen Höhen hinabwanderten und sich ihr Sehapparat noch nicht umgestellt hat.
Wir Menschen betrachten die Evolution also mit einem Sehapparat, der über Jahrmillionen vervollkommnet wurde. Aber wir wissen nicht, wie unsere Art in zehntausend Jahren sehen wird.