Hamburg. Mit der agentenbasierten Modellierung bilden Forscher die Probleme von Ballungsräumen ab – auch für Hoheluft.
Meine Agenten tragen keine schwarzen Sonnenbrillen, und nur einige von ihnen fahren Auto. Vor allem Bob: Wenn er irgendwohin muss, bevorzugt er den Wagen. Alfred radelt dagegen durch die Stadt, solange die Sonne scheint, während Earl bevorzugt den öffentlichen Nahverkehr nutzt.
Tag für Tag fahren Bob, Alfred und Earl zur Arbeit im Stadtteil Hoheluft, bringen ihre Kinder zur Kita oder kaufen ein. Doch sie existieren nicht wirklich. Sie sind „Agenten“, die sich in einem Computermodell durch ein virtuelles Hamburg bewegen. Mit einem solchen Modell untersuche ich in einem Forscherteam, wie typische Lebensumstände und Einstellungen von Agenten etwa die Wahl der Verkehrsmittel beeinflussen. So hat Bob wenig Zeit, Earl wenig Geld, und Alfred ist umweltbewusst. Zusätzlich verändern Faktoren wie das Wetter, Sprit- oder Buspreise ihre Entscheidungen.
"Stressoren": Hitze, Lärm, Luftverschmutzung
Mithilfe des Modells können wir auch abschätzen, wie stark die Agenten durch „Umweltstressoren“ beeinträchtigt werden, also durch potenziell gesundheitsschädliche Umweltfaktoren wie Hitze, Lärm, Luftverschmutzung oder die Folgen des Klimawandels. Solche Stressoren wirken in Städten mit einer hohen Dichte von Menschen, Gebäuden oder Verkehr besonders stark: Allein die schlechte Luft verursacht weltweit schätzungsweise zwei Millionen Todesfälle pro Jahr. Weil Gebäude Wärme speichern, führen extreme Hitzewellen – die künftig wahrscheinlich häufiger werden – in vielen Städten zu noch höheren Temperaturen als im Umland.
Weltweit leben bereits mehr als die Hälfte aller Menschen in Städten, mit steigender Tendenz. Für Stadtplaner und Politiker ist es wichtig, diese lebenswert und gesund zu gestalten. Dazu tragen die Erkenntnisse bei, die wir durch agentenbasiertes Modellieren gewinnen. Am Computer können wir ausprobieren, wie sich lästige Baustellen, steigende Kosten im öffentlichen Nahverkehr oder zusätzliche Radwege auf die Entscheidungen Einzelner auswirken – und was dies für die Gesundheit der Individuen und für die Stadt als Ganzes bedeutet.
Städte müssen sich dem Klimawandel anpassen
Die Methode wurde durch das Aufkommen von Computern möglich. Für meine 1989 abgeschlossene Doktorarbeit habe ich sie erstmals benutzt, um mit einem selbst programmierten Modell die Folgen unterschiedlicher Handlungsoptionen im Ost-West-Konflikt zu simulieren. Zwischen den beiden möglichen Szenarien der Aufrüstung und Abrüstung zeigte mein Modell einen chaotischen Übergang als Folge wachsenden Vertrauens zwischen den Supermächten.
Wenige Wochen nach der Simulation endete der Kalte Krieg mit dem Zerfall des Ostblocks. Dass eine Modellanalyse so schnell von der Wirklichkeit überholt werden könnte, kam auch für mich überraschend.
Heute ist agentenbasierte Modellierung aus der Forschung nicht mehr wegzudenken. Wenn wir verstehen wollen, wie sich eine Gruppe in einer bestimmten Umgebung verhält, liefert die Methode wertvolle Einsichten. Sie eignet sich auch für die Erforschung der Auswirkungen städtischer Umweltstressoren – das hat der Test mit den typisierten Agenten Bob, Alfred und Earl gezeigt.
Die bisher gewonnenen Ergebnisse schaffen die Voraussetzung für eine Erweiterung des Modells mit Daten realen Verhaltens. Damit lassen sich beispielsweise die Folgen von Wetterextremen simulieren, um zu prüfen, ob Fluchtwege und Versorgungsrouten in der Stadt im Krisenfall funktionieren.
Möglich wäre auch, die agentenbasierte Modellierung auf weitere Ballungsräume zu übertragen – denn Städte müssen sich weltweit an den Klimawandel anpassen.
Die Forschung zum Klimawandel in Hamburg
Exzellenzcluster: Die Klimaforschung in Hamburg genießt internationales Renommee. Das Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit der Universität Hamburg (CEN), das Max-Planck-Institut für Meteorologie, das Institut für Küstenforschung des Helmholtz-Zentrums Geesthacht und das Deutsche Klimarechenzentrum bilden gemeinsam den Exzellenzcluster für Klimaforschung (CliSAP).
Präsentation: Einmal im Monat präsentieren CliSAP-Forscher den Lesern des Hamburger Abendblatts Ergebnisse aus ihren Gebieten. Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, leitet die Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit und ist Mitglied des Centrums für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN).