Hamburg. Folgen von Kopfstößen können verheerend sein. Bei Eishockey, Fußball, Handball, Boxen und Radfahren ist das Risiko besonders hoch.

Philippe Dupuis ist ein von Grund auf positiver Mensch, ein Mann, dessen lockere Art ansteckend ist. Spricht man den 30 Jahre alten Stürmer der Hamburg Freezers jedoch auf die vergangenen zwölf Monate an, verfinstert sich die Miene des Frankokanadiers. Dupuis verpasste in der Vorsaison einen Großteil der Saison in der Deutschen Eishockey-Liga. Der Grund: Der Stürmer zog sich innerhalb von fünf Monaten zwei schwere Gehirnerschütterungen zu.

„Es war eine harte Zeit, nur in einem abgedunkelten Raum sitzen zu können. Sobald ich Fernsehen geschaut habe oder einfach nur vor die Tür gegangen bin, wurde mir schwarz vor Augen. In so einer Phase denkt man viel nach“, sagte Dupuis, der all das aber hinter sich gelassen hat. Mittlerweile ist der Publikumsliebling der Freezers wieder symptomfrei. Im Sommer hat sich der Frankokanadier einen neuen Helm zugelegt, der Stöße gegen den Kopf besser absorbieren soll. Dupuis will so etwas wie in den letzten zwölf Monaten nicht wieder erleben.

Mit dieser Krankengeschichte ist Dupuis sicher kein Einzelfall. Viel häufiger noch als die schweren Gehirnerschütterungen sind aber die kleinen, die nur mit geringen Symptomen einhergehen. „Ich betreue seit 14 Jahren als Sportarzt den Profi-Eishockeysport in Hamburg und sehe, dass die Sportler häufig mit diesem Problem konfrontiert sind“, sagt Dr. Jan Schilling, Orthopäde und Mannschaftsarzt der Hamburg Freezers. Er ist auch Mitglied der neu gegründeten Deutschen Gesellschaft für Sport-Neuropsychologie, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Diagnostik und Therapie von solchen häufig unterschätzten kleinen Gehirnerschütterungen im Sport zu vereinheitlichen und voranzutreiben. „Neuropsychologen untersuchen, ob die Funktionen des Gehirns beeinträchtigt sind“, sagt der Diplom-Psychologe Gerhard Müller vom Zen­trum für Klinische Neuropsychologie in Würzburg. Sein Team beschäftigt sich seit Jahren mit Kontaktsportarten. Müller ist einer der Gründungsväter und Vorsitzender der neuen Fachgesellschaft.

Eine klassische Gehirnerschütterung ist häufig mit einem kurzzeitigen Bewusstseinsverlust verbunden und geht meist mit Übelkeit und Erbrechen einher. Müller: „Uns geht es vor allem um die leichten Gehirnerschütterungen, bei denen die klassischen Symptome fehlen. Trotzdem können in diesen Fällen Gehirnfunktionen wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis und Handlungsplanung beeinträchtigt sein. Bei den meisten Sportlern halten solche Symptome maximal 14 Tage an. In zehn Prozent der Fälle dauert es aber auch Wochen, bis die Verletzung auskuriert ist.“ Um solche Gehirnerschütterungen zu erkennen, wird bei den Profi-Eishockeyspielern in Deutschland der sogenannte SCAT-Test (Sport Concussion Assessment Tool) angewandt. Damit werden 20 Symptome abgefragt. „Der Test muss sofort nach der Verletzung erfolgen. Ein Schnelltest mit einer Kombination aus Fragen und Gleichgewichtsübungen wird noch an der Bande durchgeführt und kann auch von Physiotherapeuten gemacht werden. Wenn in diesem Test Auffälligkeiten festgestellt werden, erfolgt der komplexe SCAT-Test, der aufwendiger ist und von einem Arzt durchgeführt wird“, sagt Schilling.

Zum Vergleich wird ein Test herangezogen, der bei jedem Spieler im gesunden Zustand als Basisuntersuchung durchgeführt wurde. „In Hamburg machen wir bei den Eishockeyspielern zusätzlich noch eine erweiterte neuropsychologische Baseline-Untersuchung, die 45 bis 60 Minuten dauert und in der Neurotraumatologie des Unfallkrankenhauses Boberg durchgeführt wird“, sagt Jan Schilling. Zudem absolvieren die Spieler im Rahmen eines Forschungsprojekts eine spezielle Kernspinuntersuchung im Universitätsklinikum Eppendorf, mit der das Gehirn auf Funktionsstörungen und winzige Blutungen untersucht wird.

Bei folgenden Sportarten ist das Risiko für eine Gehirnerschütterung besonders hoch: Eishockey, Fußball, Handball, Boxen, Radfahren. Nach einer solchen Verletzung ist das Gewebe besonders empfindlich. Das heißt, es braucht eine gewisse Zeit – sieben bis 14 Tage –, bis es sich wieder erholt hat. „Die Hauptgefahr in dieser Phase: Wenn es in dieser Zeit noch eine zweite Verletzung gibt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Hirngewebe abstirbt“, sagt Schilling.

Wird die Diagnose einer Gehirnerschütterung gestellt, ist deshalb die erste Behandlung absolute Ruhe, das heißt keine Reize durch Fernsehen, Computerspiele, am Handy spielen. Ist diese Ruhephase nach einigen Tagen vorbei, gibt es für die weitere Therapie eine festgelegte Behandlungsstrategie. Dazu gehört auch, kognitive Funktionen wieder zu schulen, also die Koordination, zum Beispiel durch Jonglieren. Außerdem geht man davon aus, dass viele Betroffene ein Problem damit haben, mit den Augen einen Gegenstand zu fokussieren. Ein Training der Augenmuskeln gehört daher ebenfalls zur Therapie.

Die Phase des Wiederaufbaus kann einige Tage bis Monate dauern

Mithilfe von speziell geschulten Therapeuten üben die Patienten auch, mehrere Informationen, die sie gleichzeitig erhalten, zu verarbeiten und in Handlungen umzusetzen. Mit physiotherapeutischen Maßnahmen wird die gestörte Funktion der Nackenmuskulatur behandelt. Die Patienten bekommen auch Verhaltensempfehlungen mit auf den Weg: viel trinken, kein Alkohol, keine Zigaretten, wenig Fernsehen, Stressfaktoren minimieren.

Wie lange diese Phase des Wiederaufbaus dauert, richtet sich nach der Belastbarkeit und den noch vorhandenen Symptomen des Patienten. Sie kann wenige Tage, aber auch Wochen bis Monate dauern. „Nach dem jetzigen Kenntnisstand gehen wir davon aus, dass nach einer abgeschlossenen Therapie die Verletzung komplett ausgeheilt ist.

Lässt sich jemand nicht behandeln und treibt weiter Sport, als wäre gar nichts geschehen, muss man davon ausgehen, dass dauerhafte strukturelle Schäden im Gehirn drohen“, warnt der Orthopäde Schilling.

Wer nach einer solchen Gehirnerschütterung zu früh in den Sport zurückkehrt, hat nach Angaben von Gerhard Müller ein vierfach erhöhtes Verletzungsrisiko innerhalb der ersten zwei Wochen. Und mittlerweile weiß man, dass mehrere Gehirnerschütterungen im Karriereverlauf des Sportlers negative Auswirkungen haben können: „Die Spieler erleben dann häufig einen Leistungsknick, und sie brauchen nach jeder Gehirnerschütterung länger, um sich davon zu erholen“, sagt Müller.

Umso wichtiger ist die Prävention. Dazu gehören laut Müller auch Schulungen von Managern, Trainern, Physiotherapeuten und Spielern. „Je besser die Spieler geschult sind, umso weniger Kopfzusammenstöße gibt es“, sagt der Neuropsychologe.

Mit ihren einfachen, aber zielgerichteten Untersuchungen übernehmen die Eishockeyspieler zurzeit in Deutschland eine Vorreiterrolle. Aber auch andere Sportverbände haben jetzt die Notwendigkeit erkannt und beschäftigen sich bereits damit. „Im Fußball, im Handball und im Basketball läuft es an“, sagt Müller und betont: „Unsere Aufgabe als Fachgesellschaft sehen wir darin, für diese Verletzung ein Bewusstsein zu schaffen, und zwar nicht als Konkurrenz zu den Ärzten, sondern als Ergänzung zu Sportmedizinern und Neurologen.“