Neurologen warnen: Zu kurze Ruhephase setzen die Denkleistung herab. Entstehung von Demenz wird begünstigt. Schlaf spiele bei der Entstehung vieler Erkrankungen eine größere Rolle als angenommen.
München. Fast ein Drittel des Lebens geht damit dahin: Schlafen. Manche halten das für Zeitverschwendung. Viele Mächtige und Wichtige sollen mit wenig Schlaf auskommen, darunter etwa Spitzenpolitiker wie Barack Obama und Angela Merkel. Die Kanzlerin sagt von sich, sie habe „kamelartige Fähigkeiten“: Sie habe eine gewisse Speicherfähigkeit, müsse dann aber wieder auftanken.
Doch wenig Schlaf über Tage kann die Leistung des Gehirns senken. Langfristig könnte Schlafentzug die Entstehung von Demenz fördern, warnen Neurologen. „In unserer Informationsgesellschaft schlafen wir ein bis eineinhalb Stunden kürzer als noch in den 1960er-Jahren“, sagt Geert Mayer, Neurologe und Chefarzt der Hephata-Klinik in Schwalmstadt. „Wir haben relativen Schlafentzug – alle.“
Die Vorgänge im Gehirn während des Schlafes sind ein Thema beim Neurologen-Kongress vom 15. bis 19. September in München. 7000 Fachleute aus Neurologie, Neuropädiatrie, Neuropathologie, Neurochirurgie und Neuroradiologie befassen sich unter anderem mit Schlaganfall, Demenz, Multipler Sklerose, Epilepsie, Lähmungen, Schmerz- und Schwindelsyndromen.
Bei der Entstehung vieler Erkrankungen spiele Schlaf eine weit größere Rolle als angenommen, sagt Kongresspräsident Wolfgang Oertel. Die Bedeutung werde unterschätzt.
Rund zehn Prozent der Bevölkerung können demnach chronisch nicht ein- oder durchschlafen. „Schlafstörungen sind eine Volkskrankheit, werden aber lediglich als Befindlichkeitsstörung behandelt“, sagt Mayer.
Neue Studien an Tieren stützen demnach den Verdacht, dass zu wenig Schlaf über Jahre die Entstehung von Demenz begünstigt. Bestimmte Abbauprodukte im Gehirn würden im Schlaf abtransportiert und häuften sich bei Mangel an, sagt Mayer. „Das kann zu einer Frühschädigung des Gehirns führen, die wir noch gar nicht merken.“
Kurzfristig richtet Schlafentzug keine Schäden an, beeinträchtigt aber Funktionen im Gehirn. Konzentration, Denk- und Merkleistung lassen nach. Während Politiker die Geschicke ihrer Bürger bei nächtlichen Verhandlungsrunden noch im Halbschlaf steuern dürfen, gibt es für Lokführer und Busfahrer Vorschriften in Sachen Lenkzeit. Zu wenig Schlaf beeinträchtigt auch das Lernen. Wer vor einer Prüfung bis in den Morgen paukt, müht sich womöglich vergebens. Denn im Schlaf werden Gedächtnisinhalte abgespeichert und verfestigt. Lernen im Schlaf – der Traum des Schülers, der mit dem Buch unterm Kopfkissen die Nacht verbringt, ist zumindest ein bisschen wahr.
Im Schnitt braucht der Mensch sieben Stunden Schlaf. „Es gibt aber genetisch bedingt Kurz- und Langschläfer. Manche Leute kommen mit fünf Stunden hin, andere brauchen neun Stunden“, sagt Mayer. Das Problem: „Heute wissen viele Leute gar nicht mehr, wie viel Schlaf sie brauchen. Das ist ähnlich wie beim Essen: Die Selbstwahrnehmung fehlt.“
Dazu trage die ständige Verfügbarkeit medialer Unterhaltung bei. „Man kann die ganze Nacht durch fernsehen – früher kam um zwölf das Testbild.“ Es mangele zudem an einem Bewusstsein für die Bedeutung des Schlafs. „Bei jedem Kind sagt man: Es braucht den Schlaf. Bei den Erwachsenen scheint alles weggewischt.“
Geben sich manche keine Zeit zum Schlafen, so wälzen sich andere nachts qualvoll wach herum. Manche Krankheiten wie das Restless-Legs-Syndrom (RLS) lassen die Betroffenen kaum zur Ruhe kommen. Bei der Schlafapnoe sorgen Atemaussetzer für schlechten Schlaf und spätere Tagesmüdigkeit. Neurologen entdecken Schlafstörungen zunehmend als frühen Hinweis auf neurologische und psychiatrische Erkrankungen. Schlafprobleme können laut Oertel einer Depression um mehrere Jahre vorausgehen. Patienten, die später an Parkinson, der Parkinson-ähnlichen Multisystematrophie oder Demenz erkranken, haben mitunter schon Jahrzehnte vorher Probleme in der von Träumen geprägten REM-Schlafphase: Sie können unruhig schlafen oder um sich schlagen.
Wer zu wenig schläft, riskiert auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht und Diabetes. Der Stoffwechsel ändere sich, die Insulinsensibilität nehme ab, das Risiko für Diabetes Typ 2 steige, sagt Mayer: „Menschen mit Schlafstörungen haben ein höheres Krankheitsrisiko und sterben früher.“
Trotzdem versuchen Menschen mit immer neuen Tricks, den Schlafbedarf zu senken. Gerade in Mode sind polyphasische Schlafmodelle. Kurz und tief schlafen, schnell erholen – und Zeit sparen. Der traditionelle Mittagsschlaf sei sinnvoll, da der Körper nachmittags die Temperatur senke und so in Schlafbereitschaft gehe, sagt Mayer. Aber: „Dass man mit 20 Minuten Schlaf mittags zwei Stunden Schlaf sparen kann, ist Quatsch.“ Versuche mit Studenten auf Schlafentzug ergaben in Sachen Kurzschlaf: „Die Studenten hatten so einen Schlafdruck, dass sie nur schwer zu wecken waren.“